Dunkle Geschichte - Gurlitts Erbe unter der Lupe
Berlin (dpa) - Am Eingang ein provisorisch hingeklebtes Schild. Im ersten Stock ein langer trister Flur, graue Türen, kahle Wände. Nichts deutet darauf hin, dass in diesem Abbruchhaus im Herzen Berlins der wohl spektakulärste Kunstfund der deutschen Nachkriegsgeschichte aufgeklärt wird.
Seit fast einem Jahr erforscht eine international besetzte „Taskforce“, welche Bilder aus dem millionenschweren Erbe des Münchner Kunstsammlers Cornelius Gurlitt NS-Raubkunst sind - ihren einstigen Besitzern also von den Nazis gestohlen oder abgepresst wurden. Für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) geben die Fachleute jetzt erstmals Einblick in ihre Arbeit.
„Absolute Priorität hatten zunächst Werke von Menschen, die die Grauen der Shoah überlebt haben. Jetzt widmen wir uns Arbeiten, zu denen uns Anfragen von Hinterbliebenen der Opfer erreichen“, sagt die Taskforce-Chefin Ingeborg Berggreen-Merkel, früher Stellvertreterin von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU). „Wir wollen den Menschen, deren Familien unter diesen grauenvollen Verhältnissen so gelitten haben, schnellstmöglich Klarheit verschaffen.“
Mehr als 200 Anfragen nach bestimmten Werken sind bisher eingegangen - mitunter sehr konkret mit einer Forderung vom Rechtsanwalt, häufig genug aber auch einfach mit persönlichen Erinnerungen von Familienmitgliedern.
Zunächst will die Forschergruppe die Geschichte der 499 verdächtigen Arbeiten aus Gurlitts Schwabinger Wohnung klären. Bestätigt sich ein Verdacht, soll das fragliche Werk „ohne Wenn und Aber“ an die Nachfahren der einstigen Besitzer zurückgegeben werden, verspricht das Kunstmuseum Bern, das von Gurlitt als Alleinerbe eingesetzt wurde.
Inzwischen sind es sechs Mitarbeiter, die vom Berliner Büro aus die weltweite Recherche organisieren. Drei von ihnen gehören der 14-köpfigen Taskforce mit Herkunftsforschern aus aller Welt an, darunter auch aus Israel. „Uns ist es für die Akzeptanz unserer Arbeit wichtig, dass auch die Stimme der Opfer vertreten ist“, so Berggreen-Merkel.
Wie eine Art Brückenkopf in ihren jeweiligen Ländern treiben die Mitglieder der Arbeitsgruppe die Forschung vor Ort voran. „Unser Ziel ist einmal, durch Grundlagenforschung in Archiven, Datenbanken, Katalogen und anderen Dokumenten möglichst viele Fakten zu möglichst vielen Werken zusammenzustellen“, sagt die wissenschaftliche Koordinatorin Andrea Baresel-Brand. „Gleichzeitig vergeben wir zu bestimmten Arbeiten auch Einzelrecherchen.“
Lücken in den Unterlagen, Unklarheiten und Geheimnisse machen den Forschern das Leben schwer. So sind die Geschäftsbücher von Gurlitts Vater Hildebrand, einem offiziellen NS-Kunsthändler, offenbar nachträglich geschönt. Zu mehreren Bildern gibt es außerdem unterschiedliche Titel.
Und ausgerechnet bei einem der Glanzstücke der Sammlung, der „Kauernden Frau“ von Auguste Rodin, machte Vater Hildebrand definitiv falsche Angaben zur Herkunft. „Wenn getrickst, verschoben und verschleiert wurde, ist das für uns natürlich ein sehr mühsames Geschäft“, sagt Baresel-Brand.
Selbst die Mitglieder der Arbeitsgruppe haben nur ausgewählte Stücke der Sammlung im Original gesehen - sie wird weiter an einem geheimen Ort in Bayern aufbewahrt. Für die tägliche Recherchearbeit stehen aber von allen 499 Werken hochauflösende digitale Fotos zur Verfügung, die jeder Forscher von seinem Standort aus über ein passwortgeschütztes Internetportal aufrufen kann.
Auf dieser Plattform werden auch die Datenblätter geführt, die allen Beteiligten Auskunft über den aktuellen Forschungsstand zu jedem einzelnen Bild geben. „So können wir Einzelergebnisse bündeln und vermeiden doppelte Arbeit“, sagt die Koordinatorin. „Inzwischen haben wir 290 solcher Datenblätter, und täglich schaffen wir mehr.“
Nur in drei Fällen konnten die Experten bisher wirklich einen Schlussstrich unter ihre Arbeit ziehen. Drei Bilder geklärt in einem Jahr - was heißt das hochgerechnet für 499 plus x? Immer wieder hatte es deshalb Kritik gegeben, die Aufklärung komme zu langsam voran, die Forscher gäben zu wenig Einblick in ihre Arbeit.
„Uns waren die Hände hierzu gebunden, solange nicht über das Erbe entschieden war“, sagt die Chefin. „Fremdes Eigentum darf nicht ohne Zustimmung einfach ins Internet eingestellt werden. Umso dankbarer bin ich, dass Bern uns jetzt in dieser Angelegenheit freie Hand gegeben hat.“