Arcade Fire: Musiktheater vom Feinsten
Kaum zu fassen: Arcade Fire machen auf ihrer neuen Platte „Reflektor“ in Disco. Die Stil-Ergänzung im Repertoire ist durchaus gelungen.
Düsseldorf. „Unser neues Album wird die Leute richtig überraschen“, hat Arcade-Fire-Sänger und -Songschreiber Win Butler der britischen Zeitschrift „New Musical Express“ versprochen.
Schon die vorausgeschickte erste Single „Reflektor“ kündigte an, dass das gleichnamige vierte Werk, das seit gestern in den Verkaufsregalen steht, anders werden würde als sein Vorgänger „The Suburbs“ (2010). Man traut seinen Ohren kaum: Arcade Fire machen Disco. So zumindest scheint es zunächst.
Der schwungvolle Groove, der pochende Bass, die polternden Drums und die knalligen Effekte wecken Erinnerungen an Kalorienbomben der Charts wie Daft Punks „Get Lucky“. Doch plötzlich bekommt das siebenminütige Stück doch noch die Kurve und steigert sich in Rockausbrüche. Wenn schließlich sogar David Bowie mitsingt, der seit jeher ein großer Fan der Band ist, hat die Musik sich gänzlich gewandelt — zum typisch epischen Sound der Kapelle.
Das Upgrade auf einen weiteren Stil im Repertoire von Arcade Fire ist durchaus gelungen. Vom Gerüst her hat sich nämlich wenig geändert. Die charakteristischen Merkmale wie Melodie, Progression und instrumentale Vielfalt machen nach wie vor den Gesamtgenuss aus.
Der künstlerische Wagemut entspringt der geistigen Offenheit des Kollektivs. Win Butler bezeichnet das Werk als Mix aus Studio 54 und haitianischem Voodoo. „Der Spaß am Musikmachen im Jahr 2013 ist für mich, dass man Sex Pistols und Abba gleichzeitig mögen darf, und das ist gut so. Es ist so etwas wie eine Explosion, und alles Gute steigt nach oben. Wir brauchen Musik, die das respektiert.“
„Wir“, das ist ein siebenköpfiges Gespann talentierter Individualisten, das er und seine heutige Frau Régine Chassagne 2001 in Montreal gegründet haben. „Wir“ bedeutet für die Band aber vor allem einen familiären Zusammenhalt. Immer wieder betont Butler in Interviews, dass Arcade Fire praktisch nur Freunde sind, die miteinander musizieren. Klingt bescheiden, ist es wohl auch. Im Gespräch bestätigt sich, dass der Erfolg die Band am meisten erstaunt.
„Meine Reaktion zu all dem ist echt positiv; ich finde es geradezu saukomisch“, meinte Wins Bruder William Butler bei den Juno Awards 2011 und scherzt noch ein wenig weiter: „Hahaha, ich kann beruflich Musik machen, hahaha, wie absurd!“ Damals wurden er und seine Kollegen für „The Suburbs“ ausgezeichnet, neben dem Grammy eine der wichtigsten Trophäen der bisherigen Band-Geschichte.
Mit „Reflektor“ erweitern Arcade Fire nun ihre spektakulären Möglichkeiten um weitere Nuancen und liefern eine noch verspieltere, noch vielschichtigere Songsammlung. Premiere hatten einige Stücke in und nach der von Showmasterin Tina Fey präsentierten US-Comedy-Show „Saturday Night Live“ vor ein paar Wochen.
An den Auftritt, bei dem die Band die Single und den Song „Afterlife“ vorstellte, hängte Fernsehsender NBC noch das halbstündige Special „Here Comes The Night Time“. Das exklusiv für den Abend gedrehte Live-Video ist mehr als bloß ein Werbe-Clip. Nicht nur, dass Ben Stiller, Bono und James Franco Gäste des glitzernden Nachtclubs sind, in dem die Band auf der Bühne steht.
Auch Michael Cera spielt darin eine Rolle. Der Komiker mimt einen miesepetrigen Barkeeper, der, gelangweilt vom Auftritt der Band, süffisante Sprüche ablässt und eigentlich lieber Schach spielen würde. Deutsche Fans können sich via Youtube das unterhaltsame Konzert-Filmchen mit den Debüts weiterer neuer Stücke angucken.
Was Arcade Fire mit „Reflektor“ auf die Beine gestellt haben, ist wieder einmal Musiktheater vom Feinsten.
Mit dreizehn neuen Liedern enthält die Platte Material genug für abendfüllende Konzerte — hoffentlich im nächsten Jahr dann auch in unseren Breitengraden.