Wie Berlin tickt Barrie Kosky krempelt die Komische Oper um

Berlin (dpa) - Lange sei die Komische Oper das Aschenputtel gewesen. „Die Hierarchie war klar: Staatsoper, Deutsche Oper und dann wir.“ Barrie Kosky wird ernst: „It's not the same rules anymore, boys!

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Nun werde nach neuen Regeln gespielt, das ruft der Intendant und Chefregisseur auf Englisch von seinem Büro aus wohl dem Berliner Senat und seinen Kollegen der Konkurrenz zu. Tatsächlich ist seit dem Antritt des Australiers vor fünf Jahren die Komische Oper zum hippen Musiktheater Berlins aufgestiegen. Zum 70. Geburtstag, der am Sonntag (3. Dezember) gefeiert wird, steht das von Regisseur Walter Felsenstein gegründete Haus so gut da wie noch nie.

Ob „Pelléas et Mélisande“, „West Side Story“ oder „Ball im Savoy“ - mit einer Mischung aus Oper, Musical und Operette hat Kosky (50) sein Haus als mondänes Aushängeschild der Hauptstadt etabliert.

Im Dezember 1947 hatte die sowjetische Militärverwaltung den Österreicher Felsenstein mit der Leitung des Operettentheaters im Osten Berlins beauftragt. Felsenstein revolutionierte von hier aus die Oper mit seinen psychologischen, mehrdimensionalen Figuren. Zu seinen Schülern gehörten Regiemeister wie Götz Friedrich, Harry Kupfer und Joachim Herz.

Als Kosky Mitte 2012 sein Amt antrat, löste er eine kleine Revolution aus. Der Chef, der vorzugsweise quietschbunte Hawaii-Hemden trägt und mit seinem Mischlingswelpen Sammy durch das Opernhaus läuft, gab das Dogma auf, alle Opern müssten auf Deutsch gesungen werden. Kosky führte Untertitel ein, auch auf Türkisch.

Sofort wurde die Komische Oper „Opernhaus des Jahres“. Seitdem ging die Auslastung von 66 auf 86 Prozent hoch, die Ticketeinnahmen legten von 3 auf 6 Millionen Euro zu. „Dabei haben wir 17 Millionen Euro weniger an Zuschuss als die Staatsoper“, sagt der Intendant.

Zum Geburtstag hat Kosky einen Musical-Klassiker ausgesucht: „Anatevka“, weltberühmt unter dem Titel „Fiddler on the Roof“. Premiere ist an diesem Sonntag (18.00 Uhr), in den Titelpartien singen Max Hoppe als Milchmann Tevje und Dagmar Manzel als seine Frau Golde. Im Publikum wird auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sitzen.

Mit „Anatevka“ besinnt sich die Komische Oper auf ihre Tradition. Felsenstein hatte die „Liebesverwicklungsheiratstragikomödie“, die in einem jüdischen Schtetl im alten Russland spielt, mehr als 500 Mal aufgeführt - so oft wie keine andere Produktion des Hauses bisher. Kosky, der jetzt Regie führt, erfüllt sich mit dem Revival auch einen persönlichen Traum.

„Im Plattenschrank meiner Eltern in Melbourne gab es eine Broadway-Aufnahme von „Anatevka“. Die habe ich gehört - zusammen mit all den anderen Platten mit Musik von Mahler, Strawinsky, Tschaikowsky“, berichtet Kosky. Damals habe er alles gehört, was ihm in die Hände gekommen sei.

Aus diesen Erfahrungen hat Kosky wohl das Gespür dafür entwickelt, wie Berlin tickt. Der australische Enkel jüdischer Einwanderer aus Osteuropa erinnert die Komische Oper stets an ihre Wurzeln. Einst gehörte das Haus dem Metropol-Theater, Berlins Operetten-Tempel.

Mit seinem Programm erfüllt Kosky wohl auch eine Sehnsucht nach den „goldenen Jahren“ der Weimarer Republik. „Wir sind ein wichtiges Stück Berliner Geschichte, das einzige Berliner Opernhaus, das das Ende des 19. Jahrhunderts mit dem 21. Jahrhundert in seiner Originalarchitektur verbindet“, sagt er.

Kosky weiß, dass sich das Opernpublikum ändert. „Die Zuschauer kaufen keine Karte, weil die Komische Oper „hip“ ist. Der Erfolg der letzten fünfeinhalb Jahre liegt in unserem breiten Spektrum begründet.“ Die Idee, dass ein erfolgreiches Opernhaus im 21. Jahrhundert mit nur einer Gruppe von Zuschauern bestehen könne, sei nicht zu halten. „Wer zu Schönbergs „Moses und Aron“ kommt, muss nicht unbedingt zu „West Side Story“ kommen. Das finde ich auch in Ordnung.“

Trotz großer Erfolge und steigenden Besucherzahlen stehen der Oper schwere Zeiten bevor. Das Gebäude muss dringend saniert werden. Doch in das Schillertheater, wo Daniel Barenboims Staatsoper während der Sanierung des Hauses Unter den Linden überwinterte, will Kosky auf keinen Fall. „Das wäre der Todesstoß für uns.“ Er hat dem Senat einen Plan vorgelegt, wie die Komische Oper für die Dauer der Sanierung, voraussichtlich fünf Jahre, überleben kann. Er denkt an „wunderbare, radikale Spielstätten“, die man wechselnd nutzen könne.

Ob Kosky selber die „Zeit des Exils“ mitmacht, ist offen. Sein Vertrag läuft bis 2022. „Ich denke, zehn Jahre reichen.“ Er habe „unglaubliche Angebote“ bekommen, aus Süddeutschland, London, den Niederlanden, Wien. Doch er wolle nicht unbedingt wieder eine Oper leiten. „Ich bin Theaterkünstler, und die Verantwortung, ein Haus zu leiten, ist eine sehr große, die ich sehr ernst nehme.“ Er werde dafür gut bezahlt, habe aber fast kein Privatleben.

„Meine Psychotherapeutin hat lange, lange daran gearbeitet, dass ich mich nicht damit beschäftige, was in vier Jahren passieren könnte“, sagt Kosky. „Ich versuche, etwas erwachsener und weiser zu sein und das Hier und Jetzt zu genießen.“