„Boris Godunow“: Keine Hoffnung in Krisen-Europa
München (dpa) - Schon der Beginn dieses reichlich düsteren Opernabends im Münchner Nationaltheater ist beklemmend: Am Bühnenrand hat sich drohend ein Polizeikordon postiert.
Dann erscheint aus nebliger Düsternis das Volk, allesamt Leute von heute, die auf Befehl die Konterfeis ihrer Führer in die Höhe halten. Sie zeigen allerhand aktuelle und abgehalfterte Politprominenz: Putin, Sarkozy, Berlusconi, Cameron. Ein humpelnder Punk wird von der Polizei zusammengeschlagen.
Die No-Future-Figur aus Krisen-Europa zieht sich durch die ganze Aufführung, reckt dem Publikum als ewiges Memento den Mittelfinger entgegen. Am Ende pausenloser zweieinhalb Stunden weitgehend Buh-freier Jubel für das gesamte Ensemble, für Dirigent Kent Nagano am Pult des Bayerischen Staatsorchesters, aber auch für den als Skandal-Regisseur geltenden Calixto Bieito, der einmal mehr mit Schockszenen nicht gespart hatte. Der Punk bekam einen Extra-Applaus.
Modest Mussorgskys musiktheatralisches Meisterwerk „Boris Godunow“ spielt in der Zeit der Wirren, dem Krisen geschüttelten Übergang von der Rurikiden- zur Romanowdynastie im Russland des späten 16. Jahrhunderts. Der Spanier Bieito lässt keine Zweifel daran, dass für ihn auch die aktuelle Finanzkrise, die vor allem Südeuropa fest im Griff hat, eine Zeit der Wirren ist, in der mächtige Wirtschaftsbosse zusammen mit korrupten Politikern über ein zunehmend verarmtes Volk herrschen. Ein Volk, das ohnmächtig dem Niedergang ausgesetzt ist, unfähig zur Revolution - einstweilen.
Bojarenkitsch und Zarengepränge sucht man in Bieitos radikal aktualisierter Sicht des Historiendramas vergebens. Sein Boris ist ein schwerreicher Oligarch offenbar russischer Herkunft, der aber auch Silvio Berlusconi sein könnte. An seiner Seite der zwielichtige Brutalinski Schuiski, der immer darauf lauert, dem Chef mit seiner Mafiatruppe die Macht zu entreißen. Als Gegenspieler agiert kein weiser Mönch mitsamt jungem, tatendurstigen Gehilfen. Pimen und Grigori, letzterer mit klobiger Fototasche bewaffnet, sind als investigative Journalisten einem Skandal auf der Spur. Woodward und Bernstein, die Enthüller der Watergate-Affäre, lassen grüßen.
Doch Boris selbst ist, sowohl in Mussorgskys Original wie in Bieitos Interpretation, kein eiskalter Machtmensch, sondern eine gebrochene Persönlichkeit, die an den eigenen Untaten leidet. Mit betörendem Schmelz in der Stimme gelingt dem jungen ukrainischen Bass Alexander Tsymbalyuk ein eindrucksvolles Rollenporträt. Er ist neben dem ebenfalls aus der Ukraine stammenden Bass Anatoli Kotscherga als Pimen und dem bayerischen Tenor Gerhard Siegel als Schuiski der gefeierte Star des Abends. Am Ende verfällt Boris dem Wahnsinn, während seine Familie gemeuchelt wird - von eben jenem Journalisten Grigori, der als Aufklärer begann und als mutmaßlich von Schuiski gedungener Mörder endet. Keine Hoffnung, nirgends.
Nicht nur szenisch, auch musikalisch konnte Münchens neuer „Boris“ fast rundweg überzeugen. Kent Nagano hatte für seine letzte große Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper die Urfassung der Oper von 1868/69 gewählt, deren archaische Tonsprache viel stärker unter die Haut geht als spätere Bearbeitungen, etwa von Nikolaij Rimski-Korsakow. Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten gelang ihm eine packende Interpretation, in der selbst Glockenschläge wie Hammerschläge klangen. Ein bewegender Ausstand für Nagano, der zum Ende der laufenden Spielzeit die bayerische Landeshauptstadt verlässt und ab 2015 in gleicher Position an die Hamburgische Staatsoper wechselt.