Incubus: Ganz schön verschmust, diese Rocker
Die einstigen Crossover-Recken von Incubus liefern ein Album mit sanften Balladen ab und fragen: Wenn nicht jetzt, wann dann?
„Es ist ja nicht das letzte Album, das wir machen“, sagt Mike Einziger beinahe schon entschuldigend über die neue CD seiner Band Incubus. Keine gute Werbung. Und Frontmann Brandon Boyd balanciert auf dem Album-Cover auf einem Seil. Symbol für einen Drahtseilakt?
Die kalifornische Rockband Incubus ahnt, dass sie mit „If Not Now, When?“ (zu deutsch: Wenn nicht jetzt, wann dann) mit all seinen Balladen ein Risiko eingeht. Dabei konnten Incubus eigentlich kaum etwas falsch machen, schließlich warten ihre Fans bereits seit fünf Jahren sehnsüchtig auf ein neues Album. „Eines Tages hat die Anziehungskraft unserer Freundschaft uns wieder zusammengeführt“, sagt Gitarrist Mike Einziger im Gespräch mit unserer Zeitung. Es ist neun Uhr morgens in Los Angeles — nicht gerade die ideale Zeit für einen Rockstar.
Aber er war in den vergangenen Jahren auch gar kein Rockstar, sondern Student in Harvard. Fach: Musik natürlich. Die Band hatte sich nach der „Light Grenades“-Tour 2007 eine lange Auszeit genommen. „Wir mussten dringend mal Zeit verbringen, in der wir nicht nur auf Tour sind und jeden Tag Koffer packen“, sagt Einziger. „Einfach mal den ganz normalen Alltag genießen.“
Das war für Incubus unmöglich geworden seit ihrem großen Durchbruch 2001 mit der Single „Drive“. Ein ruhiger Ohrwurm, dessen Anfangs-Akkorde inzwischen jeder Lagerfeuergitarrist beherrscht. Brandon Boyd gründete die Band bereits vor 20 Jahren mit Mike Einziger — die beiden sind hauptsächlich verantwortlich für das Songwriting.
Für „If Not Now, When?“ haben sie sich von ihren Erfahrungen aus der Auszeit inspirieren lassen: „Es hört sich vielleicht komisch an, aber dieses Leben zwischen Abgabeterminen und Hausarbeiten war eine tolle Zeit für mich“, sagt Mike Einziger über sein Studium. Studentisch verschroben war auch der Zeitvertreib der Band während der Aufnahmen: „Halo“ spielen. „Ich habe so viel Neues über Musik gelernt“, sagt der Incubus-Gitarrist. Zuvor habe er sehr wenig von Musik verstanden. Incubus-Fans werden das bestreiten.
Brandon Boyd hat in der Kreativpause der Band gemalt und 2010 ein Solo-Album aufgenommen, dessen ruhige Lieder bereits die Richtung andeuteten, in die sich die Musik der Band nun bewegt. „Wir haben etwas Neues ausgegraben“, sagt er über „If Not Now, When?“. Das Album sei eine romantische, abgefahrene Liebeserklärung an die Welt, produziert von Brendan O’Brien (Pearl Jam, Brandon Flowers).
Ruhig und entspannt kommt sie daher, vielleicht etwas zu ruhig — eine endgültige Absage an den Crossover der frühen Bandjahre. Das verspielte Durcheinander der ersten Alben ist aber schon lange nicht mehr in der Musik der Alternativ-Rocker zu finden. Sie liefern stets eine Mischung aus Rocknummern wie „Megalomaniac“ oder „Make Yourself“, die bei jedem Konzert die Fans zum Ausflippen bringen, und ruhigeren Songs („Wish You Were Here“, „Love Hurts“) mit eingängigen Melodien.
Kritiker beschrieben die sanften Lieder auch schon als „Rockmusik für Mädchen“. Dazu trägt die Tatsache bei, dass Brandon Boyd mit seinen langen braunen Haaren den Typ Mädchenschwarm verkörpert.
Fans der härteren Nummern kommen diesmal nicht auf ihre Kosten. Das Album könnte in jedem Café oder Kaufhaus im Hintergrund laufen ohne aufzufallen. Angst, dass sie Fans mit dem Schmusekurs vergraulen, hat die Band jedoch nicht. „Wir hatten auf jedem Album ruhige Songs“, sagt Mike Einziger. „Beim Schreibprozess kamen diesmal einfach keine rockigeren Sachen aus uns heraus.“
Trotzdem beruhigt Einziger seine Anhänger: „Unsere alte Musik ist nicht weg, die spielen wir ja immer noch.“