Panorama der Einsamkeit Ruhrtriennale eröffnet mit Debussy-Oper
Bochum (dpa) — Der Beifall war einhellig, aber auch etwas erschöpft: Mit einer fast vierstündigen Premiere von Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ ist am Freitagabend in der Jahrhunderthalle in Bochum die Ruhrtriennale gestartet.
Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski, der vor drei Jahren mit seinem Proust-Marathon „Die Franzosen“ bei der Ruhrtriennale debütierte, nähert sich Debussys rätselhafter Oper mit sezierender Präzision und unbarmherziger Ausnüchterung der märchenhaft-symbolistischen Aspekte.
Die Bühne von Malgorzata Szczesniak möbliert die riesige Jahrhunderthalle lediglich mit sparsamen Verweisen. Die rechte Wand zeigt eine großbürgerliche Holzvertäfelung aus der Zeit des 19. Jahrhunderts, wie man sie in der Essener Villa Hügel findet, an der Kopfseite eine im Halbkreis geschwungene Treppe, in deren Mitte das Orchester sitzt, an der linken Wand eine Reihe von Waschbecken, die an eine Waschkaue erinnern, davor eine Bar im Stil der 1930er Jahre und ein paar Kantinentische.
An der Bar beginnt das Vorspiel ohne Musik: Mélisande sitzt offensichtlich stark alkoholisiert und fahrig rauchend am Tresen, Golaud setzt sich daneben, aber das Gespräch will nicht recht in Gang kommen, man tauscht Banalitäten aus. Eine heutige Szene mit heutigen Menschen. Golauds Satz „Let’s start from the beginning“ leitet dann über zur Oper, zu deren Beginn Debussys Protagonisten wie Operngäste den Saal betreten und dem Orchester applaudieren. Und dann beginnt der Alptraum.
Warlikowski deutet die Geschichte der geheimnisvollen Mélisande, die Golaud im Wald findet und mit auf sein verwunschenes Schloss nimmt, wo ihre seltsame Anziehungskraft tödliches Unheil auslöst, als ein Panorama heutiger Einsamkeit und familiärer Gewaltzusammenhänge. Gewalt lauert hinter jeder Geste, keiner ist unschuldig in dieser wie auf Millimeterpapier ausgezirkelten Familienaufstellung.
Durch Kamera-Einsatz zeigt Warlikowski einzelne Aspekte des Geschehens im Detail oder schaut aus hoher Vogelperspektive auf sie herab, vergrößert und bricht sie zugleich. Jede Konstellation im Raum wirft zudem noch riesenhafte Schatten auf der getäfelten Wand, was jede kleine Geste dramatisch überhöht. Dabei meidet Warlikowski aber jeden Aktionismus auf der Bühne, jede Bewegung geschieht mit höchster Konzentration, jeder Blick sitzt.
Die Sänger agieren wie Filmschauspieler, keine einzige typische Operngeste schleicht sich ein. Warlikowski lenkt den Blick vor allem auf Mélisande, die von der kanadischen Sopranistin Barbara Hannigan mit irritierender Vieldeutigkeit gespielt wird. Mélisande ist hier kein Opfer, sondern eine zwischen Todestrieb, Lüsternheit und Verzweiflung schillernde Figur, die ihr vermutlich grausames Geheimnis nicht preisgibt.
Die Sopranistin spielt diese Mélisande wie eine Süchtige mit undurchschaubarem, faszinierenden Mienenspiel und leicht ansprechendem hellen Sopran, der keinerlei Mühen zu kennen scheint. Leigh Melrose ist ein vor gestauter Gewalt bebender Golaud von imponierender Stimmkraft, Phillip Addis gibt dessen Bruder und heimlichen Nebenbuhler Pelléas verschlossene Verzweiflung, Franz-Josef Selig ist ein sonorer, balsamisch strömender Arkel.
Sylvain Cambreling am Pult der Bochumer Symphoniker lotet die Tiefen und Untiefen von Debussys Klangspur präzise aus, präpariert sorgfältig die Reminiszenzen an Wagner heraus und sorgt für höchste Transparenz und schimmernde Klarheit. Cambrelings Debussy hat nichts Schwüles, Parfümiertes, sondern eine zwingende Sogkraft, deren Dramatik subkutan wirkt.
Ein starker, hochkonzentrierter Auftakt des Festivals, das in diesem Jahr zum letzten Mal von Johan Simons geleitet wird. Bis zum 30. September sind in ehemaligen Kohlezechen, Halden und Stahlwerken zwischen Dortmund und Dinslaken mehr als 41 Produktionen aus Theater, Musik, Tanz und Kunst zu erleben, darunter mehrere Uraufführungen.