Schnappschüsse in Liedern: Damon Albarn veröffentlicht Soloalbum
Wer den wahren Damon Albarn kennenlernen möchte, greife zu dessen neuem Album. Das speist sich aus Erinnerungen.
Düsseldorf. „Jede Zeile auf dieser Platte ist wirklich passiert“, betont Damon Albarn. Mit 46 Jahren blickt der Sänger und Songwriter von Blur, den Gorillaz und dem Projekt „The Good, the Bad & the Queen“ auf sein Leben zurück: „Everyday Robots“ ist sein erstes Solowerk nach 25 Jahren im Pop- und Rockgeschäft und so etwas wie eine musikalische Autobiografie.
Albarn tastete sich an seine Kindheitserinnerungen heran, ging zurück in die Jahre, die ihn geprägt haben. Um seine Empfindungen aufzufrischen, besuchte er Orte seiner eigenen Geschichte. „So bekam ich ein Gefühl dafür, wer ich jetzt bin und wie ich zu den Dingen stehe.“ Angefangen hat er dort, wo er aufgewachsen ist, in Leytonstone, einem Stadtbezirk von London. Für eine halbstündige Dokumentation der Sendereihe „Culture Club“ begleitete ihn die BBC an ein paar Plätze. „Ich fühle mich wie ein Riese“, sagt Albarn bei der Ankunft, „weil meine Erinnerungen an diese Gegend nur bis zum Alter von neun Jahren gehen.“
Das multikulturelle London der 70er hatte großen Einfluss auf ihn als Künstler und Persönlichkeit, vor allem die Musik dieser Zeit. Daheim bei den Eltern, die Künstler und Lehrer waren, liefen meist Blues oder indische und afrikanische Musik. Ungewöhnliche Kunstformen wurden im Hause Albarn ebenso gepflegt wie die eher einfachen: „Wir waren eine Familie, die sich ständig künstlerisch betätigte. Es gab nie irgendwelche Grenzen, was man machen kann und was nicht.“
All diese Erfahrungen fließen in die Songs von „Everyday Robots“ ein. „Hollow Ponds“, die jüngst erschienene dritte Single-Auskopplung zum Beispiel, ist ein ruhiges, luftiges, meditatives Lied mit entspanntem Gesang. Es handelt von dem gleichnamigen Freizeitgebiet aus Wäldern und Seen im Norden von Greater London — dort, wo der junge Albarn mit Tausenden anderen Londonern die große Hitzewelle von 1976 miterlebte. „Ein fantastischer Sommer“, erinnert er sich und schmunzelt: „In gewisser Weise war es ein Coming-Out, London hat sich plötzlich nackt gesehen.“
„Hollow Ponds“ ist nur einer der Schnappschüsse aus Musik und Text, die Albarn mit „Everyday Robots“ liefert. Für ihn ist es jedoch so etwas wie der Ausgangspunkt, von dem aus sein Projekt überhaupt erst richtig Fahrt aufnahm. Denn wenn ein Künstler etwas sucht, dann ist es Inspiration. Beim Besuch der Hollow Ponds bekam Albarn eine extrastarke Portion davon. Das wirkte sich auch auf den Rest der Lieder aus. „Wenn du etwas Neues beginnst, sei es ein Buch, ein Album, ein Gemälde oder sonst einen kreativen Prozess, dann brauchst du den Moment, in dem dir etwas die Zuversicht gibt weiterzumachen.“ Diesen Moment fand er in der freien Natur, in der er sich einst allein und mit seiner Familie aufhielt. Mit diesem Konzentrat aus Erinnerungen hat er das gesamte Album behutsam gepfeffert.
Auch für Zutaten wie die Instrumentierung und den Background-Gesang ließ sich Albarn von seiner Vergangenheit inspirieren. Als Kind fuhr er sonntags oft bei der Kirche der Pfingstbewegung in Leytonstone vorbei und hörte von draußen den Gospels zu. Den Chor dieser Kirche konnte er für zwei Stücke seiner Platte gewinnen. Auf dem Singalong „Mr. Tembo“ besingt er mit dem Leytonstone City Mission Choir die Geschichte eines verwaisten Elefantenbabys, das er einmal bei einem Aufenthalt in Tansania gesehen hat. Das Lied wollte er ursprünglich nur seiner inzwischen 14-jährigen Tochter Missy zum Geburtstag schenken, doch nun ist es auf dem Album gelandet. „Ich wusste, es ist an der Zeit, damit aufzuhören, als ich ihr kürzlich ein Stück nach dem anderen vorspielte und sie weinte — nicht aus Freude, sondern weil es ihr peinlich war.“
Seinen Humor hat der Brite bei aller Ernsthaftigkeit des melodiösen, persönlichen und außergewöhnlichen Projekts nicht verloren. Vielleicht markiert das reife Ergebnis ja die Zäsur, endlich auch mit Blur den Nachfolger zum letzten Album „Think Tank“ (2003) einzuspielen. Bis dahin lernen Fans auf „Everyday Robots“ garantiert den echten Albarn kennen.