Yannick Nézet-Séguin: Ein Wolf im Schafspelz am Dirigentenpult
Yannick Nézet-Séguin aus Kanada ist der neue Superstar der Klassik-Welt. Er führt Orchester musikalisch auf den Gipfel.
Düsseldorf. Der Auftritt von Yannick Nézet-Séguin (38) im Konzertsaal wirkt zunächst unspektakulär: Ein sympathisch lächelnder junger Mann betritt das Podium, er entspricht nicht gerade dem Klischee des Maestros à la Karajan oder Celibidache, bringt dann aber das Orchester zum Kochen. Der frankokanadische Dirigent mag wie ein Zauberlehrling wirken, doch mit seinem Taktstock sendet er Impulse großer Pultmagie. Er stellt viele bekanntere Kollegen in den Schatten, deren Plattenaufnahmen oft eine Karriere als Staubfänger im Regal vor sich haben.
Nézet-Séguin beantwortet mit seinem Tun auch die häufig gar nicht unberechtigte Frage, wofür ein Profi-Orchester überhaupt einen Dirigenten brauche. Zur technischen Bewältigung eines Werkes ist dieser nicht zwingend nötig. Doch einer wie Nézet-Séguin führt ein Orchester musikalisch auf den Gipfel. Das ist dann vergleichbar mit der Formel 1, bei der ein Rennwagen nur durch den Profi am Steuer seine Kräfte entfaltet, ein Sonntagsfahrer dagegen den Karren nur vor die Wand setzen würde.
Das Klassik-Label „Deutsche Grammophon“ produziert derzeit eine CD nach der anderen mit dem Kanadier, der kürzlich Chefdirigent des Philadelphia Orchestra wurde, einem der US-amerikanischen „Big Five“. Mit ebendiesem Spitzenorchester hat er nun die revolutionär moderne Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ eingespielt. die vor 100 Jahren in Paris uraufgeführt wurde und für einen Skandal gesorgt hatte. Das Stück thematisiert einen heidnischen Opferkult, bei dem sich eine Jungfrau zu Tode tanzt. Nézet-Séguin holt mit seinem Dirigat aus dem Orchester Klänge von ungeheurer Wucht, die das Urwüchsige und Entfesselte des Stücks gewaltsam zum Ausdruck bringen.
Etwa zeitgleich mit Strawinskys Ballett spielte der Dirigent mit dem Rotterdamer Symphonieorchester, dessen Chef er schon seit mehreren Jahren ist, die 6. Symphonie „Pathétique“ Tschaikowskys ein. Nun bilden die Rotterdamer nicht so einen Spitzen-Klangkörper wie die Kollegen aus Philadelphia, doch Nézet-Séguin brachte auch die Niederländer zur Hochform. Allein der rasant marschierende 3. Satz gelingt flirrend virtuos.
Der Kanadier, der auch Klavier und Kammermusik studierte, versteht sich nicht nur auf opulente Symphonik, sondern auch auf dezentere Klassik, und dirigiert häufig Mozart, etwa dessen Opern. Kürzlich erschien „Così fan tutte“ auf CD. Orchestral überbietet diese Aufnahme alles Dagewesene. Wenn das „Wind-Terzett“ mit einer Streicher-Einleitung beginnt, glaubt man, der Himmel würde sich öffnen. Kaum setzen aber die drei Sänger ein, zieht er sich wieder zu. Da hat ein Produzent kein gutes Händchen bei der vokalen Besetzung gehabt. Aber Nézet-Séguin steht noch am Beginn seiner Karriere und wird noch Gelegenheit bekommen, mit erstklassigen Sängern aufzunehmen.