Neuerscheinung Seine Krimis entstehen an der Abbruchkante zur Wirklichkeit

Düsseldorf · Der Journalist Wolfgang Kaes befruchtet immer wieder den Schriftsteller. Jetzt liegt mit „Endstation“ sein achter Roman vor.

Wolfgang Kaes ist Chefreporter des „Bonner General-Anzeigers“ und Krimi­autor.

Foto: Jennifer Bertus/Rowohlt/Jennifer Bertus

Vermutlich war es ein kluger Ratschlag seiner Frau, dass Wolfgang Kaes dem Mord an seinem Großvater in den ersten Jahren des Naziregimes nicht tiefer nachgegangen ist. Die Mörder wurden nie ermittelt. „Das hat die Familie geprägt“, sagt der Bonner Journalist und Autor. Aber ihm wäre es wahrscheinlich noch schwerer gefallen als ohnehin schon, innere Distanz zu schaffen zu seinen Recherchen. „Ich muss auf mich aufpassen“, das sagt er immer mal wieder, wenn er spürt, dass die Fälle ihm zu sehr an die eigene Substanz gehen.

Kaes ist Chefreporter beim „Bonner General-Anzeiger“. Ein akribischer Sammler und genauer Zuhörer. Und hartnäckig obendrein. Anfang 2012 veröffentlichte er seine Recherchen zu Trudel Ulmen, die seit 16 Jahren vermisst war. Die Berichterstattung führte dazu, dass der Fall schließlich aufgeklärt und der Ehemann der Frau 2012 wegen Totschlags zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Kaes brachte das den Henri-Nannen-Preis ein, den Leuchtturmpreis des Netzwerks Recherche und die Wahl zum Journalisten des Jahres 2012.

Kaes ist aber auch Krimiautor, seit 15 Jahren nun schon, im August ist mit „Endstation“ sein achter Roman erschienen. Und in beiden Rollen, als Journalist wie als Schriftsteller, bewegt ihn seit jeher die Frage, wie das Böse in die Welt kommt. „Ich habe bis heute keine Antwort gefunden.“ Aber die Suche danach lässt ihn nicht los. Das hat auch etwas mit seinem Gerechtigkeitsempfinden zu tun, das bei ihm nach eigener Einschätzung „vielleicht etwas übertrieben“ ausgeprägt ist: „Ich kann Ungerechtigkeit nicht aushalten.“

In den ersten drei Monaten nach den Recherche-Veröffentlichungen zu Trudel Ulmen hat Kaes Hilfegesuche von rund hundert Menschen erhalten. Die allermeisten musste er abblocken: „Ich habe nicht die personellen Kapazitäten, nicht die juristische Legitimation und nicht die technische Ausstattung. Aber ich habe ganz viel Vertrauen in der Leserschaft.“ Will heißen: Der Reporter ist auf sein in Jahrzehnten gewachsenes Netzwerk angewiesen – und auf ein Geschehen im Einzugsgebiet der Regionalzeitung, für die er arbeitet.

Der ungeklärte Tod
eines 19-jährigen Studenten

Einen der an ihn herangetragenen Fälle hat er daher dann doch aufgegriffen: die Geschichte des 19-jährigen Jurastudenten Jens Bleck aus Bad Godesberg, der in der Nacht zum 9. November 2013 nach dem Besuch einer Diskothek ums Leben kam. Zwei Wochen später fand man seine Leiche in Köln im Rhein.

Erst ging die Polizei von Suizid aus. Kaes‘ Berichte führten zu weiteren Zeugenaussagen, aber trotz vieler Widersprüche und ungeklärter Fragen wurden die Ermittlungen immer wieder eingestellt: zunächst im Herbst 2015, ein weiteres Mal im Jahr darauf, nach zwischenzeitlicher Intervention der Kölner Generalstaatsanwältin und heutigen NRW-Opferschutzbeauftragten Elisabeth Auchter-Mainz dann zum dritten Mal Anfang Mai dieses Jahres.

Auch in „Endstation“ geht es um einen 19-jährigen Studenten. Jonas Frederik Barthold verschwindet nach einem Discobesuch im fiktiven Bad Hombach, seine Leiche wird später aus dem Rhein geborgen. Dass Kaes dabei aus seinen Zeitungsrecherchen geschöpft hat, liegt nahe. Das hat er immer getan. „Spur 24“, der vorige Roman, ist grundiert vom Fall Trudel Ulmen. „Ich habe gar nicht genug Fantasie, ich brauche die Anleihen in der Wirklichkeit“, sagt er dazu.

Aber Kaes selbst verweist diesmal in seinem Nachwort auf die Erfahrung, dass manche literarische Wendung von Lesern als authentisch wahrgenommen wird, aber frei erfunden ist, während andere Schilderungen als fiktiv eingeschätzt werden, sich aber „bei einem realen Fall exakt so zugetragen haben“. Diese Grenzen zu erspüren, macht einen Teil der Spannung beim Lesen der Kaes-Romane aus.

Blick auf die Themen, bei denen
die Welt auseinanderfällt

Sein Ehrgeiz ist dabei vor allem, „Leser dazu verführen zu können, sich mit einem Thema zu beschäftigen, mit dem sie sich vielleicht sonst nicht beschäftigt haben“. Womöglich aus gutem Grund nicht. Kaes räumt unumwunden ein, wie gut es auch ihm tue, „in meiner journalistischen Arbeit Porträts über Menschen zu schreiben, die die Welt zusammenhalten“. Aber als Reporter wie als Autor blickt er immer wieder gerade auf die Themen, bei denen sich Abgründe auftun und die Welt auseinanderfällt: Stalking, Kindesmissbrauch, Menschenhandel. „Mir geht es auch darum, Strukturen aufzuzeigen: für Korruption oder auch für organisierte Kriminalität. Vieles davon wollen wir gar nicht so genau wissen.“

Acht Romane im Zeitraum von 15 Jahren, nach einer Zwischenphase bei Bertelsmann ist Kaes inzwischen zu seinem Ursprungsverlag Rowohlt zurückgekehrt – und doch: „Ich habe immer noch Mühe, mich als Schriftsteller zu sehen.“ Was er aber sieht, ist eine weitere Motivation für das Schreiben von mehr als 400 Seiten: Im Buch kann seine Empathie für die Opfer viel sichtbarer werden als im Journalismus. Und von den verborgenen Langzeitwirkungen des Opferseins versteht er etwas: Zu manchen Familien seiner recherchierten Fälle besteht bis heute ein enger, vertrauensvoller Kontakt. „Und das wird auch nie mehr weggehen.“