Meinung Das Gefühl der Trauer braucht keine Bewertung
Das Entsetzen, die Trauer und die Anteilnahme, die Menschen nach den Terroranschlägen von Paris empfinden, ist groß. Das alles dokumentiert sich in Gedenkminuten, Menschenketten, in sozialen Netzwerken, in direkter Hilfe.
Die Anteilnahme ist allgegenwärtig. Und sie ist umstritten.
Umstritten bei denen, die anmerken, jenes Schicksal der Opfer von Paris habe zuvor andere ereilt, die allerdings viel weniger Aufmerksamkeit erfahren hätten. Zuletzt etwa in dem fünf Flugstunden von Paris entfernten Beirut im Libanon, wo zwei Selbstmordattentäter 44 Menschen ermordet haben. Der sogenannte Islamische Staat hat sich auch zu diesen Taten bekannt. Wo war unsere Anteilnahme am Schicksal dieser unschuldigen Zivilisten?
Das ist eine Kritik zuerst an den Medien. Weil Zeitungen und TV-Sender über das Leid von Beirut weitaus weniger berichtet haben als über jenes aus Paris. Aber es ist eben auch Kritik an den Menschen: Weil die Berichterstattung (und es gab sie natürlich) viel weniger kommentiert, (mit)geteilt, sprich konsumiert wurde. Das ist kein Urteil, aber es ist die Wahrheit. Und es ist menschlich: Dass uns das nahe geht, was uns nahe ist. Geographisch. Vielleicht auch menschlich, weil Menschen aus Frankreich uns bekannt sind, weil wir wissen, dass sie unseren Werten nah sind. Mit einer Hierarchie der Toten hat das so wenig zu tun wie mit bewusster Ignoranz. Sondern vor allem damit, dass wir im Unfassbaren intellektuell, aber vor allem empathisch überfordert sind. Darf ich mir aussuchen, welches Leid ich mittrage im (zu) großen Kosmos des Weltleids? Das muss jeder für sich entscheiden. Was aber tatsächlich ärgerlich ist, ist jene belehrende „Klugheit“, mit der Menschen nun ein ganz ursprüngliches Gefühl abgesprochen wird. Warum haben jene, die sich jetzt über die vermeintlich unverhältnismäßige Trauer für Paris mokieren, nicht nach den Morden von Beirut laut aufgeschrien — ganz ohne sich am Drama von Paris moralisch ausrichten zu können? Sie hätten es zurecht getan.
Auch Journalisten bleibt ein schlechtes Gefühl, dass über eine Bombe in Paris oder London anders berichtet wird, als über eine in Kairo, Beirut oder Bagdad. Die Frage mag sein, ob die Medien das Maß der Trauer bestimmen, oder aber die Trauer die Medien bestimmt. Mit dem Gefühl der Trauernden hat das nicht viel zu tun. Dieses Gefühl braucht keine Bewertung.