Meinung Das Gefühl ist fast alles
Was von Meinungsumfragen zu halten ist, wissen wir nicht erst, seitdem viele Menschen in Großbritannien den Brexit und viele Menschen in den USA den Präsidentschaftskandidaten Trump befürwortet haben.
Es endet oft doch anders, als es die Demoskopen vorhergesagt haben.
Als Mittel zur Mobilisierung aber taugen sie allemal. Insofern kann man mit Blick auf die Umfragen konstatieren: Die Sozialdemokratie erfreut sich neuer Beliebtheit. In frischer personeller Konstellation springt die Partei innerhalb kürzester Zeit von 20 auf 26 bis 28 Prozent, allein in NRW hat die SPD in einem Monat mehr als 1000 neue Genossen eingesammelt. Und im Internet wird die „Schulzokratie“ ausgerufen, mitsamt all jenen Verbal-Spielchen um kuriose Helfertaten, die früher — warum auch immer — dem Kraft strotzenden Schauspieler Chuck Norris gewidmet waren. Beispiel: „Martin Schulz hat die Bauleitung des Berliner Flughafens übernommen. Gestern 18 Uhr ging der erste Flug ab.“
So viel Begeisterung darf man als Coup für die Genossen werten. In ihr steckt aber auch ein gutes Stück Ironie für die Erkenntnis, dass Personen Prozesse auf wundersame Weise verkürzen oder mindestens verdichten können.
Man muss mit gleichem Verve feststellen, dass Schulz’ Vorgänger Sigmar Gabriel offenbar nicht viel mehr als der Sargnagel der Sozialdemokratie gewesen wäre. Wie muss sich der Außenminister angesichts dieses Hypes fühlen?
Als die SPD konsequent sozialdemokratische Politik in einer Großen Koalition durchgesetzt hat, kam die Partei nicht einen Schritt voran. Erst seit das frische Gesicht da ist, eilen die Wähler herbei. Vielleicht hilft Gabriel diese Erkenntnis: Dieser kuriose Wechsel passt — bei allem Respekt für den Kandidaten Schulz — in eine Welt, in der das Gefühl so viel dominanter bewertet wird als Fakten und Details. Was in diesen Tagen tatsächlich auch für die SPD spricht: An dieser grundsätzlichen Neuausrichtung der Gesellschaft wird sich bis zur Wahl nichts mehr ändern.