Meinung Extremismus – die Gefahr ist so diffus wie riesig

Meinung · Der Mordfall Walter Lübcke, der Verfassungsschutzbericht aus Berlin – sie sollten uns gleichermaßen besorgen.

Juliane Kinast

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Der mutmaßliche Mörder des Walter Lübcke hatte also Helfershelfer, aber wohl kein Netzwerk. Und, so suggerieren die Nachrichten aus Karlsruhe, das sollte uns alle beruhigen. Die Frage ist: wieso?

Just an diesem Donnerstag legte der Bundesinnenminister den aktuellen Verfassungsschutzbericht vor, welcher enthüllt, dass man mit Rechts-, Links- und islamistischen Extremisten fast eine deutsche Großstadt füllen könnte. Allein 12 700 gewaltbereite Rechtsextremisten soll es im Lande geben. Und muss die bittere Lehre aus dem Fall Lübcke nicht lauten, dass jeder von ihnen ein zweiter Stephan E. werden könnte?

Was nutzt die Erkenntnis, dass augenscheinlich kein neuer NSU am Werk war, kein im Untergrund operierendes Netz aus findigen Nazis, sondern bloß ein Einzelner – wenn es doch mehr als einen Einzelnen oder ein paar Einzelne zum Töten gar nicht braucht. Oder andersherum: Diese Einzelnen, die töten wollen, brauchen heute nicht mehr das Netzwerk, in das sie eingebettet sind, das sie mit schrecklichen Ideen, praktischen Tipps und ausreichend Wut versorgt. Das geht heute online ganz einfach, rund um die Uhr und weltweit. Es liegt doch nahe zu vermuten, dass es auch diese – sagen wir mal – „Schwarm-Wut“ war, die Lübckes Mörder auch vier Jahre nach dessen umstrittener Äußerung über Flüchtlinge und die mögliche Ausreise Deutscher noch so angeheizt hat, dass er zur Schusswaffe griff.

Beispiele für Einzeltäter, denen etwas lockerer Chat-Kontakt genügte, um mental wie technisch zur Anschlagsreife zu gelangen, gibt es nicht nur unter Rechtsextremisten. Den Kölner Rizinbombenbauer, dem wohl eine Ausreise zum IS nicht glückte und der stattdessen eben in der heimischen Wohnung – so die Anklage – genug Biokampfstoff herstellte, um bis zu 100 Menschen zu meucheln. Allen bisherigen Erkenntnissen nach auch Anis Amri, der zwar immer wieder Kontakte in die islamistische Szene hatte, den Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten und zig Verletzten aber wohl allein austüftelte.

Die Welt wird komplizierter und der Terror wird es mit ihr. Das Grundprinzip „Anschlag – Bekennerschreiben“ existiert kaum noch. Das hat durchaus Methode, denn je diffuser die Gefahr ist, umso mehr ängstigt sie uns. Zu Recht. Es kann überall jeden treffen, lautet die Botschaft der Täter, gleich aus welchem ideologischen Spektrum. Insofern wäre es gefährlich, aufzuatmen, wenn hinter einem Fall wie Lübckes Tod kein Netzwerk steht. In einer Großstadt voll Extremisten reicht ein sehr kleiner Prozentsatz an Einzelnen, die sich zu Gewalt entschließen, um eine Bilanz wie die des NSU etwa zu erzeugen.