„Kalte Progression“: Extrem ungerecht — und keiner merkt es
Normalverdiener leiden unter heimlicher Steuererhöhung.
Der Staat erhöht jedes Jahr für seine ganz normalen Bürger die Steuern. Und kaum einer merkt es. Und darüber beschließen muss der Bundestag auch nicht. Passiert alles automatisch. Jetzt kam heraus, dass diese Mehreinnahmen des Staates sogar noch höher als bisher angenommen ausfallen.
Doch diese Nachricht hat immerhin einen positiven Aspekt: Die sogenannte kalte Progression rückt endlich stärker in den Blick der Öffentlichkeit. Somit steigen die Chancen, dass diese heimliche Steuererhöhung abgeschafft wird.
Wofür übrigens in ungewohnter Übereinstimmung Union, FDP und Linkspartei plädieren. Während Rot-Grün die Lösung konservieren möchte. Mit dem Argument, man brauche sie, um Löcher im Haushalt zu stopfen.
Doch abgesehen davon, dass sich ein Haushalt auch durch andere Maßnahmen — wozu zum Beispiel Einsparungen zählen — konsolidieren lässt, überrascht die Zurückhaltung der Opposition, der ja angeblich soziale Gerechtigkeit extrem wichtig ist.
Denn die kalte Progression trifft die ganz normalen Berufstätigen besonders hart, also Arbeiter, durchschnittlich verdienende Angestellte. Fast alle, die als Ledige zwischen 8005 und 52 882 Euro im Jahr verdienen — bei Verheirateten gelten doppelte Werte — leiden unter ihr. Besserverdienern hingegen kann die kalte Progression egal sein.
Dass dieses Phänomen weder bei der politischen Opposition noch bei den gebeutelten Bürgern zu einem schrillen Aufschrei führt, lässt sich nur dadurch erklären, dass die kalte Progression schwer zu verstehen ist — und auf den ersten Blick sogar gerecht klingt: Wer mehr verdient, zahlt auf seinen Mehrverdienst auch prozentual höhere Steuern. Scheint logisch.
Doch wenn die Lohnsteigerung bescheiden ausfällt und teilweise von der Inflation aufgefressen wird, verschlechtert sich die Kaufkraft des Einzelnen wegen der seltsamen kalten Progression trotz eines höheren Bruttoverdienstes sogar.
Vor der Bundestagswahl im Herbst wird die Politik dieses Problem wohl nicht mehr beseitigen. Und danach? Bleibt Schwarz-Gelb an der Macht, dürfte die neue-alte Regierung wahrscheinlich am Veto des Bundesrats scheitern. Kommt es zu einem Regierungswechsel, kann man nur auf einen fruchtbaren Erkenntnisgewinn hoffen.