Kommentar Europas Arme müssen offen bleiben
Meinung | Berlin · Der nun endgültige Brexit ist ein Bruch in der bisher beispiellosen Erfolgsgeschichte der EU. Ein großer Schritt rückwärts.
Großbritannien ist ein Kernland Europas, Siegermacht des Zweiten Weltkrieges, die älteste Demokratie der Welt, das Land, von dem die Industrialisierung ausging und bis heute große kulturelle Ausstrahlung. Es gibt an der Tragweite dieses Austrittes nichts zu beschönigen. Zumal man ahnt, dass er der Anfang weiteren Unheils sein könnte. Ein Frankreich unter Le Pen würde kaum mehr lange Mitglied bleiben. Und Polen ist es ebenso wie Ungarn nur noch wegen der Fördertöpfe, nicht wegen gemeinsamer Werte.
Wer Europa von außen betrachtet, kann nur sagen: Die müssen verrückt sein. Auf einem Kontinent mit so vielen gleich starken Staaten können Reibungen, seien es politische, wirtschaftliche oder gar militärische, nur verhindert werden, wenn die Nationen kooperieren. Je enger, desto besser. Das ist die Lehre des blutigen 20. Jahrhunderts, unabhängig vom Nazi-Rassenwahn. Zweitens ist eine enge politische und wirtschaftliche Kooperation heute die einzige Chance Europas, um im Konzert der neuen Supermächte mithalten zu können. Auch das ist einfach zu begreifen. Großbritannien zum Beispiel droht nun eine ganz andere Zukunft, als sich die Romantiker des alten britischen Empire wohl erhofft haben: Als Schoßhündchen Donald Trumps.
Der Austritt erklärt sich zwar auch aus den Besonderheiten der britischen Geschichte. Und aus der Insellage. Aber machen 34 Kilometer Kanalwasser schon einen neuen Kontinent? Nein, im Kern ist der Brexit das Werk einer gewissenlosen politischen Kampagne. Er ist der erste große Triumph der neuen Nationalisten auf dem alten Kontinent. Spalte, teile, herrsche. Und mache Reibach mit möglichst wenig Regeln. Dafür wurden Feindbilder geschürt: Die polnischen Gastarbeiter, die Fischer aus Frankreich, die Bürokraten in Brüssel. So eine Stimmung könnte man jederzeit auch in anderen Ländern entfachen.
Oberstes Ziel muss es nun sein, dieses Feuer nicht weiter um sich greifen zu lassen. Auch durch eine sozialere Politik in der EU selbst. Der Geist, in dem die nun kommenden Verhandlungen mit London um die langfristigen Beziehungen geführt werden, muss konstruktiv sein. Ohne Bonus für die Aussteiger zwar, aber auch ohne Rachegefühle. Die Finanzmarktjongleure der Londoner City können eine Nation, die ihre Industrie weitgehend verloren hat, auf Dauer nicht satt machen. Großbritannien braucht Europa wirtschaftlich. Brüssel muss daher versuchen, das Land auch künftig so eng wie möglich an die EU zu binden. Ähnlich wie Norwegen oder die Schweiz. Vor allem darf aus dem Graben, den die Brexetiers gegraben haben, kein Graben zwischen den Menschen werden. Denn auch nach dem 1. Februar 2020 leben die Briten nicht auf einem anderen Stern. Sie bleiben Europäer. Europas Arme müssen für sie offen bleiben.