Urteil Ausländische Pflegekräfte können jetzt auf Mindestlohn pochen
Erfurt/Berlin · Sie sind in vielen Familien der «gute Geist», ohne den die Pflege von Oma und Opa kaum machbar wäre: Pflegehilfen aus Osteuropa. Sie leisten oft 24-Stunden-Betreuung und bekommen wenig Geld. Das muss sich nach einem Grundsatzurteil ändern.
Sie kochen, putzen, kaufen ein, helfen alten Menschen bei der Körperpflege und leisten ihnen Gesellschaft: Zehntausende Betreuungskräfte aus dem Ausland arbeiten in deutschen Haushalten. Zu ihrer Bezahlungen hat das Bundesarbeitsgericht am Donnerstag in Erfurt ein Grundsatzurteil gefällt, das nach Einschätzung von Fachleuten Auswirkungen auf die Pflege zu Hause haben wird. Den ausländischen Arbeitnehmern, die Senioren in ihren Wohnungen betreuen, stehe der gesetzliche Mindestlohn zu, urteilten die höchsten deutschen Arbeitsrichter (5 AZR 505/20).
Der Mindestlohn gelte auch für Bereitschaftszeiten, in denen die zumeist aus Osteuropa stammenden Frauen Betreuung auf Abruf leisteten. „Auch Bereitschaftsdienstzeit ist mit dem vollen Mindestlohn zu vergüten“, sagte der Vorsitzende Richter Rüdiger Linck in der Verhandlung. Er machte deutlich, dass Bereitschaftsdienst auch darin bestehen könne, dass die Pflegehilfe im Haushalt der Senioren wohnen müsse „und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten“.
„So nachvollziehbar die Entscheidung auch ist. Das Urteil löst einen Tsunami aus für alle, die daheim auf die Unterstützung ausländischer Pflegekräfte angewiesen sind“, erklärte Eugen Brysch, Vorstand bei der Deutsche Stiftung Patientenschutz in Dortmund. Es sind nach seinen Angaben mindestens 100.000 ausländische Helfer offiziell in deutschen Haushalten beschäftigt. Hinzu kämen schätzungsweise 200.000 Menschen, die ohne schriftliche Vereinbarung als Betreuungskraft arbeiteten. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, sagt den Zeitungen der Funke Mediengruppe, nach dem Urteil drohe der häuslichen Pflege ein „Armageddon“.
Vermittler werben hilfesuchende Familien in Deutschland nicht selten mit dem Versprechen einer 24-Stunde-Betreuung - meist für wenig Geld. Die Klägerin aus Bulgarien, die für den Präzedenzfall vor dem höchsten deutschen Arbeitsgericht sorgte, bekam von ihrem heimischen Arbeitgeber, den sie mit Erfolg auf Zahlung des deutschen Mindestlohns verklagte, nach eigenen Angaben im Jahr 2015 pro Monat 950 Euro netto gezahlt.
Dafür sei sie 24 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche für eine über 90 Jahre alte Frau in deren Wohnung in Berlin da gewesen. Selbst nachts habe die Tür zu ihrem Zimmer offenbleiben müssen, damit sie auf Rufe der Seniorin reagieren konnte. Laut Arbeitsvertrag sollte ihre Arbeitszeit 30 Stunden wöchentlich betragen - bei einem freien Wochenende.
Angesichts der großen Versprechungen sei die vereinbarte Arbeitszeit eher niedrig veranschlagt worden, fand der Richter. „Das sind Dinge, die sind nicht rund.“ Die Auftraggeber in Deutschland zahlen in der Regel an die Firmen in den Herkunftsländern der Helferinnen vor allem aus Bulgarien, Rumänien, Polen oder der Ukraine.
„Hätten wir die ausländischen Pflegekräfte nicht, wäre die häusliche Pflege schon zusammengebrochen“, sagte Brysch von der Stiftung Patientenschutz. Rund 3,3 Millionen Menschen, die pflegebedürftig sind, lebten in Deutschland zu Hause. Die Gewerkschaft Verdi, deren Mitglied die Klägerin ist, sowie die Bundestagsfraktion der Linken sprachen von teilweise ausbeuterischen Zuständen. Auch der Bundesverband der Betreuungsdienste beklagte teils unhaltbare Arbeitsbedingungen Zehntausender osteuropäischer Betreuungskräfte in Privathaushalten.
„Es ist beschämend, dass in unserem Land viele pflegebedürftige Menschen und ihre Familien auf eine sogenannte 24-Stunden-Pflege zurückgreifen müssen, weil das offizielle System keine ausreichende Unterstützung bietet“, erklärte Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. „Das Modell, Frauen meist aus osteuropäischen Ländern im Haushalt des hilfebedürftigen Menschen wohnen und arbeiten zu lassen, um immer auf jemanden zurückgreifen zu können, basiert auf systematischem Gesetzesbruch.“
Die Klägerin verlangte für sieben Monte Arbeit im Jahr 2015 bei der Seniorin in Berlin rund 43.000 Euro brutto abzüglich bereits gezahlter knapp 7000 Euro netto. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sprach ihr Mindestlohn für 21 Stunden pro Kalendertag zu - die Arbeits- und Bereitschaftszeit wurde dabei geschätzt. Diese Entscheidung hat nach dem Urteil der Bundesarbeitsrichter keinen Bestand. Die Erfurter Richter verwiesen den Fall der bulgarischen „Sozialassistentin“ an das Landesarbeitsgericht zurück. Es soll die Arbeitszeit und die Höhe der Nachzahlung nochmals prüfen.