Heine-Preis Heine-Preis für Palermos Bürgermeister: „Ein Populist denkt nicht in der Zeit“

Palermo · Mit Leoluca Orlando erhält ein Politiker den Heine-Preis, der ein Vorbild für Europa sein kann. Wir trafen ihn in Palermo, wo er Bürgermeister ist.

Der Mafiajäger und europäische Menschenrechtler Leoluca Orlando bekommt den Heine-Preis.

Der Mafiajäger und europäische Menschenrechtler Leoluca Orlando bekommt den Heine-Preis.

Foto: imago/Metodi Popow/M. Popow

Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, erhält am 1. Dezember im Plenarsaal des Düsseldorfer Rathauses den Heinrich-Heine-Preis, der mit 50 000 Euro dotiert ist. Es ist die höchste internationale Auszeichnung, die die Landeshauptstadt zu vergeben hat. Die Laudatio hält der Regisseur und Fotograf Wim Wenders.

Kein Dichter, aber ein Schriftsteller. Kein Heine-Fachmann, aber ein Beispiel für Europa. Als er 1985 zum ersten Mal an die Spitze der Mafia-Hauptstadt gewählt wurde, stand er auf der Abschussliste der Verbrecher. „Ich sollte der Nächste sein. Zivilcourage – die Chance gegen Korruption und Terror“ nennt sich sein Buch über den Kampf gegen Mafia und Korruption.

Seine Waffe war nicht nur die Polizei und die Staatsanwaltschaft, sondern vor allem der Glaube an die Kultur. Statt politischer Phrasen ermutigte er die Bürger, sich ihre Werte und ihre Kultur zurückzuerobern. Heute ist Palermo die Hauptstadt des Willkommens und der Kultur. Ein Gespräch.

Herr Orlando, Sie sind Schüler von Martin Heidegger und Freund von Hans Georg Gadamer. War die Philosophie ein Leitbild für Sie? Oder ist es eine Partei?

Orlando: Meine Partei ist Palermo, Sizilien und das Mittelmeer.

Ihr Glaubensbekenntnis?

Orlando: Ich habe zur Manifesta, die gerade bei uns stattgefunden hat, ein Exposé gemacht über unseren sogenannten Planeten-Garten. Den Titel habe ich von dem berühmten französischen Botaniker Gilles Clément genommen. Und der italienische Maler Francesco Lojacono hat uns die Landschaft in Palermo mit allen Bäumen und Pflanzen gemalt, aber ohne autochthone Pflanzen. Es finden sich keine einheimischen Pflanzen darunter. Das heißt, alle Pflanzen, die bei uns wachsen, kommen aus anderen Ländern und Kontinenten. Sie kommen von der ganzen Welt. Sie sind Migranten-Pflanzen. Das ist unsere Identität.

Sind diese Migranten-Pflanzen für Sie ein Symbol der Metamorphose, die sich auch auf die aktuelle Situation der Flüchtlinge übertragen lässt?

Orlando: Ja, weil sie nicht von ihrer Geburt her so sind, also nicht von ihrer Genese, sondern durch die Kultur.

Sie fassen den Begriff der Kultur sehr weit, als Möglichkeit der Zukunftsgestaltung, als Chance zur Entwicklung, Verwandlung und Umgestaltung?

Orlando: Ja. Palermo ist Welt-Kulturerbe. Hier leben viele Kulturen zusammen. Man sagt, in Palermo gehen die Katze und die Maus zusammen. Das heißt, während es in anderen Ländern Krieg gibt, lebt man in Palermo in Harmonie.

Kann die Kultur die Welt verändern?

Orlando: Ja. das ist es gerade, was in Palermo passiert. Palermo war die Hauptstadt der Mafia, heute ist es die Hauptstadt der Kultur. Dabei war Palermo nicht im Licht der Politik. Heute ist es eine blühende Kulturstadt. Auch die Migranten sind heute eine klare Botschaft, sie erinnern uns an unsere menschlichen Werte.

Der Weg führte die Flüchtlinge über das Mittelmeer?

Orlando: Der Weg über das Mittelmeer war nicht nur Fluchtroute. Palermo war schon immer eine Weltstadt. Hier haben Phönizier, Römer, Byzantiner, Araber, Normannen, die Grafen der Anjou und Argonier gelebt und regiert.

Ihre Stadt war begehrt bei den Weltmächten. Ist Palermo eine Migrantenstadt?

Orlando: Als die Mafia hundert Jahre lang in Palermo regierte, war hier kein Migrant. Denn die Mafia war gegen die Leute, die anders, die verschieden sind. Es gibt auch keinen Migranten, der in die Mafia involviert war. Aber viele Bischöfe gehörten zur Mafia, auch viele Minister. Das war ein Gewaltsystem.

Sie verstehen sich als Europäer. Gehören Sie einer Partei an?

Orlando: Meine Kraft gehört den Menschen. Ich war der einzige Bürgermeister in Italien, der wiedergewählt wurde. Matteo Salvini von der Lega Nord ist gegen die Migranten, er hat in Palermo gegen mich nur ein Prozent der Stimmen bekommen. Das heißt, die Menschen in Palermo haben meine Vision verstanden. Palermo ist ein Symbol in der Welt geworden. Es gibt keine Migranten in Palermo. Wer hier ist, ist Palermitaner.

Wer ist in Ihren Augen ein Populist?

Orlando: Wer keinen Respekt für die anderen hat. Ein Populist hat keine Zeit. Auch ein Revolutionär denkt nicht in der Zeit, weil er sein Ideal von jetzt auf gleich verwirklichen will. Aber eine Änderung braucht Zeit, braucht Jahrzehnte. Palermo ist die Alternative zum Populismus, denn Änderungen brauchen mindestens 50 Jahre Zeit.

Ihre Lebensphilosophie?

Orlando: Jeder Mensch ist eine Person. Er kann schwarz oder weiß, alt oder jung, Katholik oder Atheist, Muslime oder Jude sein: Wer in Palermo geboren ist oder hier wohnt, kennt keine Unterschiede. Wer die Identität aus dem Blut ableitet, wer nach den Unterschieden zwischen den verschiedenen Rassen sucht, verbreitet Irrsinn, Nationalismus und Massenmord.

Sie wurden vielfach ausgezeichnet, erhielten die Goethe-Medaille, den European Civic Prize, den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und den Konrad-Adenauer-Preis. Und nun ist es der Heine-Preis in Düsseldorf, wo Sie auf viele Freunde treffen, allen voran Oberbürgermeister Thomas Geisel, dem Sie den ersten Palermo Pride Award als Auszeichnung für die Weltoffenheit von Düsseldorf und als Symbol der Verbindung zwischen den beiden Partnerstädten gegeben haben. Warum hält Wim Wenders die Laudatio?

Orlando: Ich kenne ihn seit langer Zeit und habe ihn zuletzt bei der Premiere seines Papst-Films in Rom getroffen.