Hochwasser in NRW Debatte im NRW-Landtag: Wären Flut-Opfer zu retten gewesen?

Düsseldorf · Das nordrhein-westfälische Parlament will lernen aus der größten Naturkatastrophe der Landesgeschichte. Viele Fragen stellen sich: Wo hat die Warn-Kette versagt? Wie sind Talsperren besser für Fluten zu wappnen? Auch der Innenminister räumt Verbesserungsbedarf ein.

NRWs Innenminister Herbert Reul räumt Fehler im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe ein. 

Foto: dpa/Marcel Kusch

Zwei Wochen nach Beginn der Flutkatastrophe im Westen steht der Katastrophenschutz auf dem Prüfstand. „Verbesserungsbedarf gibt es garantiert“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch in einer Sondersitzung des Innenausschusses im Düsseldorfer Landtag. Wenn allein in NRW 47 Menschen während der „größten Naturkatastrophe in der Geschichte unseres Landes“ ihr Leben verloren hätten, sei klar, dass nicht alles richtig gelaufen sei. „Die vielleicht einzige gute und neue Nachricht für heute Morgen ist: Aktuell werden in Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit der Flut keine Personen mehr vermisst.“

Sowohl der Minister als auch Abgeordnete aller Landtagsfraktionen warfen zahlreiche Fragen auf, ob und wie so viele Todesopfer hätten vermieden werden können. Im Kern drehten sie sich vor allem darum, ob eine landesweite zentrale Steuerung gefehlt hat und welche Rolle die Talsperren gespielt haben.

ALARMKETTEN: Reul unterstrich erneut die rechtliche Erstzuständigkeit der Städte und Kreise für Katastrophenschutzmaßnahmen vor Ort. Sie hätten die Meldungen und Warnungen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) zu bewerten. „Und ich glaube, das ist auch richtig so.“ Bei Bedarf gebe es aber überörtliche Hilfen. „Sicher sein kann man sich erst eine Stunde vorher, wo wann was passiert.“

KOMMUNEN: SPD, Grüne, AfD, aber auch die in NRW mitregierende FDP äußerten Zweifel, ob Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte mit der Aufgabe allein gelassen werden dürften, aus den komplexen Daten des DWD selbst konkrete Katastrophen-Prognose für ihren Ort zu erstellen und daraus weitreichende grundrechtseinschränkende Maßnahmen wie Evakuierungen abzuleiten. Solche Berechnungen müssten von einer dafür fachlich gerüsteten Stelle vorgenommen werden, forderte die FDP. Die AfD schlug eine landesweite Koordinierungsstelle vor. „Hätte es was gebracht, wenn ich bei Landräten und Oberbürgermeistern eingegriffen hätte?“, fragte Reul zurück. „Vermutlich nicht viel.“ Sein Eindruck sei: „Die haben gut gearbeitet.“

KRISENSTÄBE: Die SPD wollte wissen, warum Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) nach den ersten Anzeichen für eine dramatische Lage keinen Krisenstab eingerichtet hatte. „Was muss passieren, bis ein Landeskrisenstab eingerichtet wird?“, fragte der Abgeordnete Hartmut Ganzke. Die Landesregierung hätte nicht warten dürfen, ob Andere die Bevölkerung warnen. Reul hielt dagegen: „Was hätte ein Krisenstab mehr gebracht? Die Arbeit hat ja funktioniert.“

ZEITABLÄUFE: Am 12. Juli habe der DWD die erste „Vorabinformation Unwetter“ veröffentlicht, berichtete er. Am Tag darauf sei eine sogenannte Landeslage eingerichtet worden, um Einsatzschwerpunkte zu identifizieren. Am 14. Juli sei die Koordinierungsgruppe des Krisenstabes der Landesregierung aktiviert worden. Die SPD fragte, ob Menschen nicht früher gewarnt und damit gerettet werden konnten. Das europäische Frühwarnsystems EFAS hatte bereits vier Tage vor den ersten Überschwemmungen Warnungen herausgegeben. Reul entgegnete, diese Informationen bekomme sein Haus nicht. Das werde sich aber ändern. In Deutschland sei allerdings der DWD „die einzige Stelle, die warnen darf und muss“.

SIRENEN: Künftig müsse es einen Mix verschiedener Warnmöglichkeiten geben, sagte Reul. Dabei würden auch Sirenen wieder eine stärkere Rolle spielen, die in etwa 40 Kommunen in NRW allerdings gar nicht mehr vorhanden seien. Derzeit gebe es in NRW 5184 Sirenen – 854 mehr als im Jahr 2018. Sie müssten aber auch vor Ort aktiviert werden, unterstrich Reul. Viele Bürger wüssten gar nicht, was nach dem Alarm zu tun sei. Manche dächten, man müsse in den Keller gehen.

WARNUNGEN: Es sei zu überlegen, ob der DWD als amtliche Bundesbehörde künftig direkt auf den Rundfunk zugreifen sollte, um nicht mehr davon abhängig zu sein, was Sender aus eigenem Ermessen entscheiden. „Das macht schon deshalb Sinn, weil der DWD auch Urheber dieser Warnungen ist.“ Mit dieser Frage beschäftige sich derzeit eine Arbeitsgruppe zusammen mit dem WDR und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Auch Lautsprecherdurchsagen von Feuerwehr und Polizei würden weiterhin eine Rolle spielen. Manchmal müsse auch an Türen geklingelt werden, sagte der Innenminister. Ganz schnell sollten Meldungen samt Warnton auf Handys gesendet werden können. „Wenn die Bundesländer nicht klarkommen, machen wir das allein.“

TALSPERREN: Die SPD forderte, das Talsperrenmanagement auf den Prüfstand zu stellen. Es sei nicht transparent, nach welchen Kriterien entschieden werde, Wehre zu öffnen und welche Auswirkungen das auf die darunter liegenden Orte habe, die in solchen Fällen „abgesoffen“ seien.

HILFEN: Reul bekräftigte, die Soforthilfen seien im Gesamtumfang nicht gedeckelt. Jedes Flutopfer bekomme das zugesagte „Handgeld“ für den nötigsten alltäglichen Bedarf. Darüber hinaus werde es Aufbauhilfen mit Geldern der Länder, des Bundes und aus Europa geben. „Das wird eine Dimension haben, da werden wir uns noch alle wundern.“ Derzeit werde versucht, die grobe Größe der Schadenssummen vor der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz zu ermitteln. Der Wiederaufbau könne Jahre dauern, sagte Reul. Auf jeden Fall würden dafür nötige Genehmigungsverfahren beschleunigt.

HELFER: Der Minister dankte allen Helfern der „Blaulicht-Familie“ sowie allen weiteren Unterstützern aus der Bundeswehr ebenso wie von Unternehmen und Privatleuten. Ihr selbstloser Einsatz sei „sensationell“. In der Spitze seien bis zu 23 000 Kräfte täglich im Einsatz gewesen. Inzwischen stabilisiere sich die Lage. Dass Einsatzkräfte an einigen Orten beschimpft oder sogar mit Schlamm beworfen worden seien, nannte Reul „fürchterlich“. Das seien aber Einzelfälle gewesen. „Was sind das für Menschen?“

PERSPEKTIVE: Der Innenausschuss wird sich in mehreren folgenden Sitzungen mit den offenen Fragen befassen. Der AfD reicht das nicht: Sie fordert einen Untersuchungsausschuss, hat dafür aber bislang keine Mitstreiter im Parlament.

(dpa)