Interview mit Timm Ulrichs „Beuys benutzte abgelehnte Studenten als Stimmvieh“

Der 81-Jährige leistet seit den 1950er-Jahren künstlerischen Widerstand. Jetzt gibt es seine erste Einzelausstellung bei Philara.

Timm Ulrichs vor einem Bild seines eigenen Augenlids, in das die über die Zeit verblassenden Worte „The End“ tätowiert sind.

Foto: Isabel Hernandez

Herr Ulrichs, Sie haben eine diebische Freude daran, die Kunst mit dem Leben gleichzusetzen, aber den Verfall im Tod gleich mitzudenken und sich das „Ende“ auf ihr Augenlid zu tätowieren, bis es verblichen ist. Noch vor Thomas Schütte haben Sie sich Ihren Grabstein entworfen. Was wollen Sie?

Timm Ulrichs: Ich habe schon immer versucht, ich zu bleiben. Nach dem Abitur 1959 in Bremen kam die berühmte Frage: Was willst du werden? Ich wollte kein Fachmann werden, kein Schubladendenken. Ich wollte der ganze Schrank sein.

Ich-Sein als erste Prämisse also? Was sagte Ihre Mutter dazu?

Ulrichs: Sie schickte mich zu einem Berufsberater. Wenn einer selbst nicht weiß, was er tun soll, wird er Berufsberater. Ich las aber schon als Schüler viel, auch in der Volksbücherei. Ich schaute mir die ersten Dada-Bücher an, die über den Arche-Verlag in Zürich als Sammlung Horizont erschienen sind. Genauso nahm ich das Bauhaus in die Hand. Da entdeckte ich zwei Seelen in meiner Brust. Die eine Richtung war Konstruktivismus, Bauhaus, de Stijl, die andere Dada. Adorno würde sagen: Die Aufgabe von Kunst ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen. Und das Gegenteil ist, Ordnung in das Chaos zu bringen. Beides hat mich fasziniert.

Warum haben Sie dann sechs Jahre lang Architektur studiert?

Ulrichs: Um meine Mutter zu beruhigen. Ich hätte ihr nicht sagen können, wie ich als Künstler Geld verdienen würde, denn meine Mutter hat unter sehr schwierigen materiellen Bedingungen als Sekretärin und Stenotypistin gearbeitet. Nach dem Vorexamen 1966 machte ich eine Kunstpause.

Und wurden zunächst Dichter?

Ulrichs: Eugen Gomringer prägte den Begriff konkrete Poesie, und Max Bill sprach parallel zu Theo van Doesburg von der Konkreten Kunst. In dieser Bewegung habe ich mich aufgehalten, habe selber Texte auf der alten Torpedo-Schreibmaschine meiner Mutter getippt, habe sie im Asta der TH Hannover vervielfältigt und aus den Telefonbüchern Adressen herausgesucht. Max Bense, Elisabeth Walther, Helmut Heißenbüttel erhielten Texte von mir. 1967 machten Max Bense und Elisabeth Walther, seine spätere Frau, die Edition Rot. Da erschien ein offizieller Gedichtband von mir. 1969 bekam ich eine Gastprofessur im Bereich Konkreter Poesie und Spracharbeit. Bis dahin hatte ich eine ganze Reihe von Ausstellungen, aber habe mich durchgehungert, Softeis verkauft und als Gesprächspartner einer alten Dame im Haushalt gearbeitet.

1969 schufen Sie Ihren Grabstein mit dem paradoxen Text: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.“ Sie lieben wie Mephisto die doppelte Verneinung?

Ulrichs: Das sind von mir nicht erfundene, aber angewandte rhetorische Figuren. Viele Aphoristiker wie Georg Christoph Lichtenberg griffen zu solchen Mitteln.

Sehen Sie sich als Aphoristiker?

Ulrichs: Wenn man Aphorismen auch bei Bildern zulässt, dann ja. Man muss Gedanken zuspitzen wie einen Bleistift. Die Pointe muss kurz sein.

1972 gründete Johannes Rau einen Ableger der Kunstakademie in Münster, Sie wurden für 33 Jahre Professor. Hatten Sie Kontakt zu Joseph Beuys?

Ulrichs: Ich habe aus der Konkursmasse von Beuys sehr viele Studenten übernommen. Beuys benutzte alle abgelehnten Studenten als Stimmvieh, aber kümmerte sich nur um seine Lieblingsleute.

Wie standen Sie als Konzept- und Aktionskünstler zu ihm?

Ulrichs: Beuys hatte zu allem eine Meinung, aber von nichts eine Ahnung. Es gibt einen Film von 1970, wo er sich mit Max Bense, Arnold Gehlen, Max Bill und Wieland Schmied über Kunst und Antikunst gestritten hat. Da hat er nur herumgefuchtelt. Er war ein Pater Leppich der Kunst, eine Art US-amerikanischer Erweckungsprediger Billy Graham, ein Volksprediger. Seine Philosophie ist ein Konglomerat aus Steiner, Allan Kaprow, Sprüchen der Dadaisten. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ haben damals alle gesagt, ich auch. Das war Allgemeingut. Aber er hat es popularisiert.

Sie wollten sich 1961 selbst ausstellen, wurden aber ausjuriert.

Ulrichs: Goebbels hat in seiner Sportpalastrede 1943 nach dem totalen Krieg gefragt, ich habe daraus die Totalkunst gemacht. Man muss vom Schlagwort zum Schlagbild kommen. Wenn man Parolen in die Welt setzt, müssen sie knapp sein wie Werbesprüche. Der erweiterte Kunstbegriff ist eher didaktisch.

Sie haben sich am Wettbewerb zur Erinnerung an den Volksaufstand von 1953 in Berlin beteiligt, aber nicht gewonnen. Den Entwurf, das „Denkmal der gestürzten Denkmäler“, zeigen Sie bei Philara. Wie halten Sie es mit Erinnerungsobjekten?

Ulrichs: Ich habe originale Köpfe von Lenin und Marx auf Flohmärkten in Ostberlin, Budapest, Minsk und sogar in Istanbul zusammengekauft. Wenn die Geschichte revidiert wird, sollte man die Dinge einfach versammeln und heil lassen, aber nicht zerstören, vergraben oder einschmelzen.

In Ihrer „Interpretation“ von Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ verfällt die Aura, in der letzten Kopie des Covers sieht man nichts mehr. Ist die Arbeit eine Persiflage auf Benjamin?

Ulrichs: Ja und nein. Ich habe ihn ja gelesen. Der Text wurde und wird überinterpretiert. In der Abfolge von 100 Kopien verflüchtigt er sich immer mehr.

Berühmt ist ihr Konterfei mit Blindenbrille, weißem Stock, gelber Armbinde und Brustschild „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“, 1975 auf dem Kölner Kunstmarkt. Wie finden Sie die Situation heute?

Ulrichs: Schrecklich. Man hat ja viel zu viel Respekt vor Sammlern. Das sind Männer mit viel Geld und wenig Ahnung. Ich gehe manchmal aus Spaß zu Auktionen der Villa Grisebach. Es gibt Tausende von Uecker- und Richter-Werken. Jedes einzelne Objekt ist ja ganz schön. Aber wenn man das hochrechnet, ist es furchtbar. Alle Museen gehören ja auch mir, sie sind Allgemeinbesitz. Ich muss es gar nicht selber besitzen, ich weiß auch nicht, warum jemand von mir etwas kaufen muss. Was macht er denn damit? Oder soll es eine Geldanlage sein? Mich könnten sie aus der Portokasse bezahlen.