Auftakt zur Düsseldorfer Märchenwoche Märchenfiguren in Zeiten wachsender Diversität
Düsseldorf · Bei der Düsseldorfer Märchenwoche reden Expertinnen über unsere Lieblingsgeschichten. Diese stecken oft voller Klischees, sagen sie.
Disney-Märchen sind vielen bekannt. Ihr Ablauf ist mit etwas Erfahrung leicht zu durchschauen: Die Prinzessin gerät in eine missliche Lage, ein Prinz eilt ihr zur Seite, sie verlieben sich – Happy End. Dass die Vorlagen aber keineswegs so verblümt und glücklich sind, lässt sich in den Originalfassungen der Brüder Grimm oder Hans Christian Andersens nachlesen. Jede Version unserer Lieblingsmärchen sind ein Spiegel der Zeit. 30-jähriger Krieg, Hungersnot und Armut als Grundlage für Grimm und Andersen, feste Geschlechterrollen und Flucht aus der Nachkriegszeit in den Cartoons aus Walt Disneys Feder.
Nun – in Zeiten wachsender Diversität und Verdrängung binärer Geschlechterrollen – muss sich Disney neu erfinden. Der Trailer einer neuen, schwarzen Arielle ging schlagartig viral. Die Hautfarbe der Titelfigur wurde im Internet heiß diskutiert. Dabei wurde Halle Bailey als Meerjungfrau aus Andersens Vorlage, die dort noch grüne Haut hatte, zum Vorbild für viele Kinder, wie es Videos auf Tiktok oder Instagram zeigten. Veränderungen, die von vielen begrüßt werden. Aber nicht nur der Unterhaltungskonzern hat sich verändert, auch Programm und Inhalt von Märchenschaffenden und -erzählern.
Auch Sarah Binias und Franziska Fabula begrüßen die wachsende Diversität in der Märchenwelt. Beide arbeiten als Märchenerzählerinnen und werden bei den Düsseldorfer Märchenwochen, die passenderweise unter dem Titel „Zukunft“ stehen, ihr Programm beisteuern. Binias, selbst Mutter, merke selber, dass die alten Geschichten oft Stereotype vermitteln. Sie sagt: „Das möchte ich meinen Kindern ungern vermitteln.“ Die Märchenerzählerin findet, dass es nicht schlimm ist, Märchen auch traditionell zu erzählen, sie werden mit etwas Positivem verbunden und mit Nostalgie, „diese Erinnerung ist sehr berechtigt“, so die Düsseldorferin.
Manche Dinge altern aber schlecht. Daher werden Märchen häufig in die Gegenwart geholt. Ein bekanntes Beispiel aus dem Hause Disney: „Rapunzel – Neu verföhnt“ (2010). Das Grundgerüst der eigentlichen Geschichte blieb aber erhalten. Eine entführte Prinzessin, eingesperrt im Turm. Anstatt dass sie von einem Prinzen gerettet wird, ist sie neugierig und rettet sich selbst in die große Welt, um ihre Bestimmung zu finden. Der Film feierte große Erfolge.
Binias selbst erzählt Märchen, die eine originelle Wendung haben, darunter eine Abwandlung vom Froschkönig. „Die Prinzessin möchte den Frosch aber nicht küssen. Sie merkt, dass sie allgemein gar keine Frösche küssen mag“, sagt Binias. Homosexualität war bisher kein großes Thema in Märchen. Erst 2017 gab es im Internet einen Aufschrei. In der Neuverfilmung von „Die Schöne und das Biest“ (2017) hatte Handlanger Lefou Gefühle für den muskelbepackten Bösewicht Gaston, die über rein freundschaftliche hinausgehen.
In einem neuen Märchenbuch „Märchenland für alle“ (2020), veröffentlicht vom „Stern“, erzählen mehrere Autorinnen und Autoren ungarische Märchen neu. Die ungarische Regierung verbot das Sammelwerk sofort, in Deutschland wird es mehrfach verschenkt. Geschichten von einem Prinzen, der einen anderen Prinzen liebt, einem Hasen mit drei Ohren und einer Königstochter, die lieber Abenteuer erlebte, anstatt zu heiraten, gehören zum bunten Sortiment.
„Die Präferenzen von Zuschauern gehen in verschiedene Richtungen“, weiß Franziska Fabula, die seit 2013 als Märchenerzählerin arbeitet, seit vergangenem Jahr sogar hauptberuflich. Viele ihrer Zuhörer sind nostalgisch, halten die Rollenbilder in den Märchen aber für veraltet. Andere wollen gerne die Klassiker hören, „das mache ich aber zunehmend ungern“, berichtet Fabula. Sie erzähle gerne Märchen mit starken Frauenfiguren, ohne natürlich das Männerbild schmälern zu wollen.
Das, was Märchen beibringen sollen, braucht keine Stereotype, der Kern bleibe der wahre Kern, so Fabula. Am typischen Aufbau eines Märchens würde sich auch nichts ändern oder an der märchenhaften Sprache. Das Wichtigste, so sagen sie und Sarah Binias, sei: Je mehr Vorbilder geschaffen werden, desto mehr Kinder würden sich repräsentiert fühlen. „Es kann die Gesellschaft zusammenführen, wenn sich nicht nur eine Gruppe repräsentiert fühlt“, resümiert Fabula.