Verkehr Tod eines Tausendfüßlers: Wie Düsseldorfs Hochstraße verschwand
Am 24. Februar vor fünf Jahren nahmen die Düsseldorfer Abschied von der Hochstraße, die Jahrzehnte das Zentrum geprägt hatte. Ihr Abriss ist eng mit der Frage verknüpft, wie viel von ihrer Geschichte eine Stadt bewahren sollte und wann Fortschritt vor Denkmalschutz stehen sollte. Der Vater des Tausendfüßlers hat in diesem Punkt etwas anderes vorhergesagt.
Düsseldorf. Die Straßenbahn fährt oberirdisch zum Hauptbahnhof, vorbei an Haltestellen wie „Ratinger Tor“ und „Opernhaus“. Die Kinder stapeln die Bauklötze, die mindestens halb so hoch sind wie sie selbst, im Nordpark aufeinander. Aus dem Lautsprecher im Schwimmbad an der Grünstraße kommt die Ansage, dass bald das „Wellenspiel“ beginnt. Das Auto der Familie scheint durch die Innenstadt zu schweben, als es über den Tausendfüßler rollt.
Das alles sind Erinnerungen an ein Düsseldorf, das es nicht mehr gibt, kindlich in einem, vielleicht auch in zweierlei Sinne. Der fünfte Jahrestag des Abschieds vom Tausendfüßler ist in diesem Zusammenhang ein Anlass für die Frage, was davon in unseren Herzen einen guten, ausreichenden Platz besitzt und was in der Wirklichkeit eine Lücke hinterlassen hat.
(Die Fotografin Bettina Himmes zeigt in diesen Bildern die "scherenschnittartige Schönheit" des Tausendfüßlers von unten. Fotos: be-him / Bettina Himmes)
Das ist eng verbunden mit einem ganz zentralen Punkt für Düsseldorf: Ist es das alleinige Erfolgsgeheimnis dieser Stadt, dass sie sich kaum an Bestehendes klammert, dass hier wie im Fall der Rheinuferpromenade Jahrhundert-Bauwerke möglich sind, weil man frei von Nostalgie ist? Oder braucht auch Düsseldorf Wurzeln, und wenn ja, wie tief sollten sie gehen?
Am 24. Februar vor fünf Jahren sind all diejenigen, die die zweite Frage mit Ja beantworten, gut zu erkennen. Sie tragen Trauerkleidung, schwarze Ballons und laufen hinter Männern mit Pauken, Saxophon und Waschbrett. Die Freunde des Tausendfüßlers, viele von ihnen Mitglieder der Initiative „Lott Stonn“, treffen sich für einen letzten Gang über die Hochstraße. „Nun ist er so gut wie tot. Zum Tode verurteilt“, sagt Manfred Droste, Verleger und Kämpfer für die Hochstraße, in seiner Abschiedsrede. „Wegen seiner hervorragenden Gestaltung stand er mit Recht unter Denkmalschutz. Und als Verkehrsbauwerk hat er sich bestens bewährt: keine Staus, keine Unfälle.“ Droste trauert und schimpft. Lärmschluchten nennt er die neuen Tunnel, Illusionisten deren Befürworter. „Der Abriss unserer bewährten und geschätzten Hochstraße ist ein großes Unglück für Düsseldorf.“
(In diese Weckgläser hat Fotografin Bettina Himmes Bilder des Tausendfüßlers gesteckt. Diese hat sie dann nochmal fotografiert. Fotos: be-him / Bettina Himmes)
In der Nähe des Trauerzuges steht auch Bettina Himmes. Die Fotografin hat ihre Kamera dabei, macht Bilder von den Ballons und versteht an diesem Tag, dass es wirklich so kommen wird, dass der Tausendfüßler wirklich abgerissen wird. Sie weiß noch nicht, dass mit diesem Tag ein Projekt beginnt, dass sie auch fünf Jahre später noch nicht losgelassen hat: eine „polemische Dokumentation“ des Abrisses, die Bilder, die auf dieser Doppelseite zu sehen sind.
Der Tag, an dem die Freunde des Tausendfüßlers das Todesurteil vernehmen, ist der 12. Juni 2012. Das Landesbauministerium veröffentlicht an diesem Tag eine Erklärung. Minister Harry K. Voigtsberger habe aus denkmalrechtlicher Sicht keine Einwände, dass der Tausendfüßler, wie von der Stadt beantragt, abgerissen werden könne, heißt es darin. Der Landeskonservator hatte diese Entscheidung verweigert und den Minister angerufen. Voigtsberger gab daraufhin ein Gutachten in Auftrag, das zu der nun verkündeten Entscheidung geführt habe.
Das Ergebnis war so erwartet, so befürchtet worden, die Begründung aber überrascht. Am Denkmal seien viele Schäden festgestellt worden: am Tragwerk, an den Überbauten, an den Unterbauten, an den Kappen, am Belag, an der Entwässerung und den Schutzeinrichtungen. Wenn man das alles beheben wolle, um den Tausendfüßler wieder sicher zu machen, müsse man die Hochstraße so verändern, dass sie „wesentliche Merkmale der Denkmaleigenschaft“ verliere, argumentierten Gutachter und Voigtsberger.
Es ist ein Tag, der Fragen zurücklässt, die zu rhetorischen verkümmern. Selbst wenn der Tausendfüßler so heftig saniert wird, dass er seine Denkmaleigenschaft verliert, muss man ihn deshalb abreißen? Selbst wenn die Kosten dafür bei neun oder elf Millionen Euro liegen, warum ist es sinnvoller, stattdessen Tunnel für weit mehr als 100 Millionen Euro zu bauen? Und: Was sagt das Gutachten eigentlich über eine Stadt, die sich offenbar so schlecht um eines ihrer Denkmäler kümmert, dass dieses nicht mehr zu retten ist?
Das Gegenargument liegt am Rhein und ist die Uferpromenade. Als beschlossen wurde, dass dort keine Autos mehr oberirdisch fahren sollen und ein Tunnel entsteht, gab es auch Widerstand und Proteste. Aber am Ende stand ein Ergebnis, das es in die Top drei in der Geschichte Düsseldorfs schaffte, neben Stadtgründung und der Anlage des Hofgartens. Doch selbst das bedeutet nicht automatisch, dass Verkehr unter der Erde ab sofort immer die beste Lösung und dass das Loslassen des Vorhandenen immer auch Fortschritt ist.
(Diese Bilder von Bettina Himmes zeigen den Abriss des Tausendfüßlers und die letzten Teile, die vorübergehend noch standen. Fotos: be-him / Bettina Himmes)
Einen Monat vor der Erklärung des Bauministers schalten Düsseldorfer Prominente eine Geburtstagsanzeige für den Tausendfüßler. Sie gratulieren zum 50. Geburtstag und wünschen ihm ein langes Leben. Das Geschenk zum Wunsch ist ein knappes Jahr älter. In den „10 Thesen für den Erhalt des Tausendfüßlers“ sind alle Argumente aus den langen, vielseitigen und -schichtigen Debatten vom Verkauf des Jan-Wellem-Platzes, dem Kö-Bogen und dem Abriss des Tausendfüßlers zusammengefasst. Er sei unverzichtbarer Bestandteil des Ensembles mit dem Dreischeibenhaus und dem Schauspielhaus. Sein Abriss werde das Vertrauen in den Denkmalschutz zerstören. Der Tausendfüßler habe sich als Verkehrsbauwerk bewährt, freie Fahrt und freier Blick würden von den Bürger sehr geschätzt. Die erhofften Fortschritte durch die Tunnel könnten ausbleiben, die neuen Pläne seien „eine gewaltige Geldverschwendung“. Die schönste Formulierung steht in These sechs: „Der Tausendfüßler ist nicht marode, er ist nur schmutzig und ungepflegt.“
Daniel Libeskind, Architekt der Gebäude des Kö-Bogen I, hat es etwas diplomatischer ausgedrückt, aber böser gemeint: „Der Tausendfüßler hat eine wundervolle Struktur, aber es ist eine Struktur seiner Entstehungszeit.“ Libeskind war wahrlich nicht allein mit der Ansicht, dass die Hochstraße nicht zu den beiden Teilen des Kö-Bogens passt. Aber seine Pläne waren unabhängig davon und auch die jetzigen Arbeiten für das Ingenhoven-Tal wären genausogut mit Tausendfüßler möglich gewesen. Ob wirklich eine Beziehung zwischen Kö-Bogen I und Kö-Bogen II entsteht und der Hofgarten trotz gut befahrener Straßenbahngleise besser zusammenwächst, ist offen.
Die Geschichte des Tausendfüßlers ist eng mit Friedrich Tamms und der wiederum sehr eng mit dem Konzept der autogerechten Stadt verbunden. Das lässt wenig Raum für Poesie, zu der der Planer aber durchaus in der Lage war. In seiner Betrachtung „Düsseldorf, Antlitz einer Stadt“ stehen folgende Zeilen über die Hochstraße, die am 5. Mai 1962 für den Verkehr freigegeben worden war: „Dort, wo die Immermannstraße mit der Berliner Allee verschmilzt, steht ein Flyover (Hochstraße) über dem Jan-Wellem-Platz, am Rande des Hofgartens und zu Füßen des Dreischeibenhauses. Dieses rund 100 Meter hohe Bürohaus ist weithin ein sichtbares Wahrzeichen wirtschaftlicher Konzentration und Prosperität. Mit dem ,Tausendfüßler’ auf der einen und dem Schauspielhaus auf der anderen Seite ist diese Baugruppe zwischen Hofgarten und Innenstadt zu einer der interessantesten städtebaulichen Kompositionen des neuen Düsseldorfs geworden. Hier kontrastiert Altes mit Neuem und beides steht dank Qualität miteinander im Einklang.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wählten die Städte für den Verkehr in ihren Zentren zwischen zwei Konzepten: Die einen (etwa Dortmund) verbreiterten die Straßen, die anderen behielten die historischen Grundrisse bei und legten so genannte Bypässe. Um die Königsallee zu entlasten, wurde in Düsseldorf über die Berliner Allee eine Nord-Süd-Achse geschaffen. Dabei ging es Tamms nicht nur darum, möglichst viel Platz für Autos zu schaffen. Vielmehr war es das Ziel, allen Verkehrsarten am Jan-Wellem-Platz ein Miteinander zu ermöglichen: Autos, Busse, Bahnen, Fußgänger, sie alle hatten ihre Wege, die genau im Herzen der Stadt zusammenliefen, ohne einander zu stören. Mit Blick auf die Konstruktion kam bei Tamms noch einmal die Poesie durch. Die Hochstraße sollte „entmaterialisiert“ wirken, sagte er, leicht und elegant durchs Zentrum laufen.
Als der Düsseldorfer Stadtrat noch über den Bau des Tausendfüßlers diskutierte, wurde der Baudezernent gefragt, wie lange dieser genutzt werden könne. „200 Jahre“, antwortete Tamms.