Herr Schmidtke, fragen Sie sich manchmal, was Sie eigentlich verbrochen haben, dass Sie mitten in Pandemie-Zeiten ein Festival „Theater der Welt“ organisieren?
Großes Theater-Festival in Düsseldorf „Es wird sicherlich neue Kunstformen geben“
Interview | Düsseldorf · In diesem Jahr wird das 15. Festival „Theater der Welt“ stattfinden – online und Open-Air. Ein Gespräch mit dem Programmdirektor.
Das Festival „Theater der Welt“ war bereist 2020 geplant, musste dann aber wegen der Pandemie abgesagt. Nun soll es digital, analog und Open-Air über die Bühne gehen.
Schmidtke: Das ist jetzt meine 15. Festival-Ausgabe. Und wer glaubt, dass es bei Festivals irgendeine Art von Routine gibt, der irrt total. Beim Festival-Machen gilt: Auch wenn die Drähte heiß werden, darf man die nicht aus den Fingern lassen. Alles geht nur über Geduld und Vertrauen. Und das ist die härteste Währung, die es in diesem Business gibt. Unser Job in diesem Pandemiejahr war, allen eingeladenen Künstlern regelmäßig die Stange zu halten und mit ihnen zu kommunizieren. Eine solche Austauschbrücke über alle Zeitzonen dieser Welt hinweg war und ist die Basis aller Hoffnung.
Wieviel Gruppen waren
und sind wieder
eingeladen worden?
Schmidtke: Wir hatten im vergangenen Jahr 34 Gruppen. Jetzt sind im Programm noch 25. So kann beispielsweise aus Brasilien, Indien und Südafrika derzeit niemand nach Deutschland einreisen. Außerdem sind mehrere Gruppen unter dem ökonomischen Druck auseinandergegangen, da sie zuletzt nicht mehr auftreten konnten und keine staatliche Unterstützung bekamen. Andere Gruppen dagegen haben sich knallharte Reiseregeln auferlegt und mit Blick auf den Klimaschutz beschlossen, nie wieder ein Flugzeug zu betreten und nur noch im regionalen Umfeld
auftreten.
Wäre das auch ein Hinweis für eine künftige Zusammenarbeit und einen künstlerischen Austausch?
Schmidtke: Es wird sicherlich neue Formen der Kunstproduktion geben. So gibt es ein paar Produktionen kanadischer Gruppen, die nicht ausreisen dürfen. Wir haben dann den Vorschlag gemacht, ihnen ein Team hierzulande zur Verfügung zu stellen und mit ihnen zu kommunizieren. Das heißt: Die kanadischen Kollegen sind während der Proben per Kamera anwesend. Da wächst ein unheimliches Vertrauen für die gemeinsame Arbeit.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Schmidtke: Ein Beispiel dafür wäre die Ko-Produktion mit den Münchner Kammerspielen. Kanadische Künstler von der Gruppe „Porte Parole“ waren eingeladen mit vier Menschen aus München zusammenzuarbeiten, die allesamt extreme Haltungen haben: also extrem rechts, extrem links, extrem ökologisch und extrem feministisch. Die wurden zu einem gemeinsamen Essen eingeladen und aufgefordert, über aktuelle Themen zu diskutieren. Sechs Stunden lang. Das wurde aufgezeichnet, und daraus entstand dann ein dramaturgisch zugespitztes Gespräch von einer Stunde – gespielt von Schauspielern, die in die Rolle hineinschlüpften. Dann kam der Vorschlag aus München für eine besondere Besetzung: dass zum Beispiel die extrem konservative Position von einer jungen Schauspielerin mit migrantischem Hintergrund gespielt wird. Damit werden eindeutige Zuweisungen etwa zu sozialen Gruppen bewusst hinterfragt. Man kapiert also, dass es sich dabei nur um Projektionen, nicht um Dokumentationen handelt.
Wie waren die
Reaktionen darauf?
Schmidtke: Die Kanadier haben das zunächst überhaupt nicht verstanden, fanden das furchtbar.
Und die Münchner?
Schmidtke: Die haben gesagt, das machen wir aber so. Und sie haben gewonnen. Im vergangenen Herbst wurde das dann in München der absolute Knaller. Die Kanadier haben Bauklötze gestaunt, das solche Verwechslungen funktionieren und dem Gesprächsmaterial eine zusätzliche Qualität verleihen. Das sind Arbeitsprozesse, die ohne Pandemie vielleicht nicht möglich gewesen wären. Durch die große Distanz der Zusammenarbeit gab es eine neue Machtverteilung.
Haben solche Formen der künstlerischen Zusammenarbeit Zukunft?
Schmidtke: Sie werden sich weiterentwickeln, aber sie werden sich nicht gegen alles andere auch durchsetzen. Aber die Pandemie hat der Welt des Theaters viele verschiedene neue Wege des künstlerischen Zusammenwirkens beschert. Das wird die Theaterwelt zumindest erweitern. Es ersetzt aber nicht das Erlebnis, mit wildfremden Menschen gemeinsam eine Aufführung zu erleben. Das sogenannte altmodische Theater wird weiterhin eine große Zukunft haben.
Stellen denn neue digitale Darbietungsformen auch neue Anforderungen an uns, die Zuschauer?
Schmidtke: Ich werde niemanden verdammen, der sagt, mich interessiert das Zeug im Internet nicht. Die neuen Kunstformen werden ohne Zweifel ein sehr spezifisches Publikum finden. Die Zuschauer müssen sich also nicht umstellen, aber sie bekommen neue Angebote.
Haben Sie denn die Hoffnung, dass auch ein jüngeres Publikum angesprochen werden könnte?
Schmidtke: Es wird einen riesigen Demokratisierungsschub geben. Das Berliner Gorki-Theater mit 400 Plätzen hat im Internet für ein englischsprachiges Stück plötzlich 11 000 Zuschauer – auch aus New York und Tansania. Das ist ein riesiger Zugewinn.
Ist der sogenannte Third Place, also die derzeitige Gestaltung des Theater-Vorplatzes mit der Raumlabor-Installation und der Tribüne, ein willkommenes Geschenk der Ruhrtriennale, für die das im vergangenen Jahr vorgesehen war?
Schmidtke: Es ist unser Rettungsanker! Weil wir auf jeden Fall 99 Prozent der Open-Air-Kunst zeigen können. Als Festival hätte ich mir die Tribüne nicht leisten können. Ich bin mir allerdings noch nicht sicher, ob wir auch die Säle öffnen können. Zu bedenken ist auch: Der Vorplatz des Theaters war wegen der aus meiner Sicht sensationellen Neugestaltung fünf Jahre lang zu für die Öffentlichkeit. Um diesen Platz wieder zurückzugewinnen, braucht man eine emotionale Aufladung. Die Kontroverse muss demnach zurück an diesen Platz. Ganz gleich, ob man alte Flugzeugteile nun gut findet oder nicht. Gerade auch mit der Tribüne, die noch bis September dort stehen wird, werden die Düsseldorfer diesen Platz annehmen.
Wird das Theaterfestival auch eine Antwort auf die Ängste unserer Zeit sein können?
Schmidtke: Unbedingt. Weil man sich aufmachen kann und die Schauspieler, ihre Kunst und ihre ganze Physis wirklich wahrnehmen kann. Wir Theatergänger haben doch alle Phantomschmerzen nach raschelndem Bonbon-Papier und dergleichen. Wir brauchen auch die emotionale Verständigung. Ohne die geht es nicht.
Bitte nur mit Ja oder Nein beantworten: Vor einem Jahr sagten sie, die größte Kraft des Theaters sei es, in der Öffentlichkeit Gemeinschaft zu erleben. Stimmt das weiterhin?
Schmidtke: Ja, ja, ja.