Virtuelles WDR-Projekt zum Braunkohleabbau „Erzählste mal was über den Bagger?“

KÖLN. · Baggerführer Arno sitzt entspannt im Führerhaus. Das größte Landfahrzeug der Welt bedient er mit zwei Joysticks. Claudia und ihr Sohn Leon stehen vor einer Baugrube und erzählen, wie es sich anfühlte, als ihr ehemaliges Haus abgerissen wurde.

Das Braunkohle-Abbbaugebiet Hambach grenzt an den Hambacher Forst. Noch immer gibt es dort Baumhäuser von Umweltschützern.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Gonzo hört man nur. Bei einer kurzen Tour, die im „Schlafzimmer“ endet, führt der Aktivist durch das Baumhaus-Dorf Winkel. Das Aufwachen über den Baumkronen – „unbeschreiblich geil“, sagt Gonzo.

Den Abbau der Braunkohle im Rheinischen Revier, die Umsiedlungen und auch den Widerstand im Hambacher Forst hat der WDR nun in einem digitalen 360°-Angebot verarbeitet, das sich vornehmlich an Schülerinnen und Schüler richtet und auch für Nutzer von Virtual-Reality (VR)-Brillen geeignet ist. Es gehe nicht darum, eine bestimmte Botschaft zu vermitteln, sagt Redakteur Stefan Domke. „Wir wollen informieren. Die Nutzerinnen und Nutzer sollen sich ein eigenes Bild machen können.“ Genau genommen bildet das unter tagebau.wdr.de abrufbare Projekt die Debatte um Kohle-Förderung, Klimawandel und Energiepolitik überhaupt nicht ab, sondern liefert „nur“ eindrucksvolles Ansichtsmaterial zum Einstieg. Der WDR verweist für weitere Informationen auf sein Online-Dossier zum Braunkohle-Tagebau, das allerdings in dem neuen Web-Projekt nicht gerade auffällig verlinkt ist.

Insgesamt 33 Szenen umfasst der interaktive Rundum-Blick auf den Tagebau Hambach. Es sind in der Regel kurze Erklärstücke, in denen einfache, vorformulierte Fragen beantwortet werden. Wie zum Beispiel: „Was ist mit dem Grundwasser?“ Der Reiz besteht in der Möglichkeit, mit der Maus die Kamera selbständig zu schwenken. Damit wird ein 360°-Rundumblick in die Innenräume, auf die gewaltigen Ausmaße von Bagger 288, den größten Bagger der Welt, und seinen ebenso gewaltigen Hunger möglich. Drohnen-Aufnahmen aus der Luft belegen eindrucksvoll die enorme Landschaftszerstörung. Wie heftig der Streit um den „Hambi“ ausgetragen wurde, belegen außerdem Aufnahmen von einem Protest-Wochenende mit Gleis-Blockaden und dem Versuch der Aktivisten, den Tagebau zu besetzen. Man kann Naturführer Michael Zobel durch den Hambacher Forst begleiten, der hier vom WDR bewusst Hambacher Wald genannt wird. 90 Prozent des Walds wurden allerdings bereits von den ohne Pause schaufelnden Baggern „gefressen“. Und die Szenen in Alt- und Neu-Manheim erinnern daran, welche Opfer die von Umsiedlung betroffenen Anwohner bringen.

Man staunt also über die technischen Leistungen, erlebt gleichzeitig einen Hauch Widerstands-Abenteuer im Baumhaus-Dorf, wo man natürlich nur Vermummte zu Gesicht bekommt, und fühlt mit Claudia Jacobs, die auf der leer gefegten Hauptstraße ihres nun zur Geisterstadt gewordenen Heimatortes Auskunft gibt. Durch das Angebot führt 1Live-Moderatorin Donya Farahani. Ihre Ansprache richtet sich hörbar an eine junge Zielgruppe, die vielleicht noch von der jungen Radiowelle des WDR, aber vom Fernsehen eher weniger erreicht wird. Auch die Fragen an Peter, Arno, Rüdiger oder Alexander vom Tagebau-Betreiber RWE sind entsprechend formuliert: „Erzählste mal was über den Bagger?“ Auch mischt sich Farahani ab und zu per Sprechblase ein. „Perfekte Vorlage für ‚nen Flachwitz“, kommentiert sie fröhlich den Satz eines RWE-Mitarbeiters („Ganz schön groß, das Gerät“). Man kann dem WDR jedenfalls nicht vorwerfen, die Jugend hier mit düster-dramatischen Warnungen vor der Klimakatastrophe zu verängstigen. Die „Fridays for Future“-Generation dürfte sich von dem Angebot leicht unterfordert fühlen.

Allerdings schaffte der WDR hier einen seltenen Schulterschluss, indem er sowohl RWE als auch Anwohnerinnen und Aktivisten für das Projekt einspannen konnte. „Wir haben RWE und den anderen Protagonisten die Zeit gelassen, um sich auf uns einzustellen“, sagt Redakteur Domke. Die Dreharbeiten begannen noch vor der Pandemie, im Herbst 2019. „Corona hat uns für zig Monate ausgebremst“, erklärt Domke. Nun aber soll das Web-Projekt zur Braunkohle „gerade in diesen Pandemie-Zeiten eine wichtige Hilfestellung für Lehrkräfte und Schüler*innen“ werden, wie WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn am Dienstag mitteilte. Der WDR stellt ergänzend didaktisches Lehrmaterial zur Verfügung.

In ähnlichen Projekten zum Kölner Dom, zum Steinkohle-Abbau und zur Erinnerung an die Nazi-Zeit und den Krieg hat der öffentlich-rechtliche Sender bereits Erfahrungen gesammelt. Das in der Zeche Prosper Haniel in Bottrop gedrehte Web-Projekt (glueckauf.wdr.de) sei von einer „deutlich sechsstelligen Zahl“ von Nutzerinnen und Nutzern abgerufen worden, sagt Domke.

Unter den Erwartungen blieb aber die Zahl derjenigen, die das Angebot mit Virtual-Reality- (VR-) Brillen nutzten. Die Technik, die den Betrachter in eine scheinbar dreidimensionale Welt versetzt, sei nun einen Schritt weiter, glaubt Domke. Das neue WDR-Angebot zum Braunkohle-Tagebau verzichtet aber auf spezielle interaktive Spielereien für VR-Nutzer, weil die Redaktion bei dem Thema keinen Mehrwert erkennen konnte.