1828: Das Tagebuch eines Krefelders
Stadtarchivleiter Olaf Richter zitiert Carl Rudolf Vogelsang.
Mitte. Historische Quellen, die einen unmittelbaren Einblick in das Alltagsleben des 19. Jahrhunderts vermitteln, sind selten für die Krefelder Stadtgeschichte. Eine solche Quelle hat nun Olaf Richter, Leiter des Stadtarchivs, vorgestellt: das Tagebuch von Carl Rudolf Vogelsang (1808 bis 1878). Als junger Mann hielt Vogelsang in den Jahren 1828 bis 1837 zahlreiche Erlebnisse und Eindrücke in Krefeld aus seiner subjektiven Perspektive fest. Zudem verfasste er Erinnerungen, die bis in seine Kindheit zurückreichen.
Im gut besuchten Saal der Volkshochschule berichtete Richter jetzt erstmals über das Tagebuch und zitierte aus den Aufzeichnungen. „Vogelsang zählt sicher zu den interessantesten Gestalten Krefelds im 19. Jahrhundert“, sagt Richter. Sein Tagebuch eröffne einen neuen Blick auf die bürgerliche, obere Mittelschicht jener Epoche. Mit 20 Jahren beginnt Vogelsang seine regelmäßigen Eintragungen. Er blickt dabei zuerst auf seine ersten Erinnerungen an die Jahre 1813/14 zurück, als er am Schwanenmarkt, nahe des Rathauses und der Alten Kirche wohnte und spielte, deren Kirchhof er als „Haupt-Tummelplatz“ seiner Jugend bezeichnete. „Oft saß ich ganze Tage mit Matthias te Kloot auf der Kellerthür gegen das Rathaus und sah dort den Truppenmärschen, durch den deutschen Freiheitskrieg veranlasst, zu“, schrieb Vogelsang.
Das Krefeld zu den Kindertagen Vogelsangs ist bis 1815 französisches Staatsgebiet, danach wird es preußisch. Der Aufschwung zur Seidenstadt beginnt in dieser Zeit, die Einwohnerzahl steigt von 5400 (1803) auf 11 600 (Anfang der 1820er Jahre). Die Stadt wurde nach den Plänen von Adolf von Vagedes immer und immer wieder erweitert.
Die Vogelsangs sind eine protestantisch-reformierte Familie, der Vater Lehrer an der Scheuten‘schen Schule, der Vorgänger des heutigen Gymnasiums am Moltkeplatz. Als Nebenerwerb betrieb er noch ein Buchantiquariat in der Wohnung der Familie am Schwanenmarkt. Vogelsang schildert, wie er von seinem Vater und seiner Mutter, später in der „Scheutensche Stiftungsschule“ unterrichtet wurde. Daneben schickten die Eltern ihn zu Conrad von Lumm, bei dem er Zeichnen lernte, zu einem Violinlehrer sowie zum Erlernen des Schönschreibens zu Johann Hohns „in die Teufelshütte“, das war eine volkstümliche Bezeichnung für die Winkelsstraße.
Vogelsangs Tagebuch geht in dieser Zeit an vielen Stellen auch auf Naturerscheinungen ein. „Er beobachtete mit einem Fernrohr die Sterne und beschrieb in den Jahren 1831 und 1837 detailreich Nord- oder Polarlichter, welche die Krefelder hellfarbenen Häuser rötlich erscheinen ließen“, so Richter.
Im Jahr 1824 begann er eine Lehre im Bankhaus Gebrüder Molenaar an der Königstraße, in der er bis in die späten 1830er-Jahre beschäftigt blieb. In seinem Tagebuch schreibt Vogelsang mehr über das Krefelder Umfeld des Bankhauses und seine privaten Kontakte als über die eigentliche Arbeit. Sehr viel mehr Einblick erhält man von ihm in seine Freizeit und seinen Freundeskreis: Im Sommer fuhr man, oberhalb des Bockumer Busches, Kahn „auf der Moers“. Die Jugendlichen badeten in Uerdingen im Rhein, im Winter liefen sie Schlittschuh. „Über das ganze Jahr verteilt gab es private Feiern, die bis in die Nacht- und frühen Morgenstunden dauerten und an denen mitunter eine große Zahl Gäste teilnahm.“
Das Tagebuch kam 1962 leihweise ins Stadtarchiv, wo es auf Film aufgenommen und kopiert wurde. Eine weitere Bearbeitung blieb jedoch aus. „Mir fiel nun dieses Archivale erst vor einem Jahr auf“, sagt Richter. Er ergänzte dann den maschinenschriftlichen Text und sammelte detaillierte Informationen zum Verständnis und zum Kontext. In diesem Zusammenhang lernte er die Ur-Ur-Enkelin Carl Rudolf Vogelsangs kennen, die sich ebenfalls mit ihrem Vorfahren beschäftigt hat. Richter möchte nun weiter forschen, zumal es Hinweise auf einen weiteren Tagebuchteil gibt. Eine Publikation des Tagesbuchs in Ergänzung mit weiteren Quellen ist angedacht, die gänzliche Finanzierung sei jedoch noch nicht abschließend geklärt.