Keine Angst bei Zeugnis-Stress
Schlechte Noten und die Sorge, sitzen zu bleiben, machen Schülern am Tag der Zeugnisvergabe immer wieder Bauchschmerzen. Beratungstellen bieten schnelle Hilfe.
Pünktlich vor dem Start der Sommerferien schlägt heute an Krefelds Schulen die Stunde der Wahrheit: Es gibt Zeugnisse. Oft sind die Noten darauf am Ende des Schuljahres keine große Überraschung mehr — trotzdem sorgen schlechte Zensuren bei einigen Schülern am Zeugnistag für Bauchschmerzen. Denn im Ernstfall geht es um die Versetzung. Nicht umsonst bieten die Beratungsstellen der evangelischen und katholischen Kirche sowie der Psychologische Dienst der Stadt auch in diesem Jahr wieder ein Sorgentelefon (siehe Kasten) für Krefelder Schüler in Not an.
„Ich glaube schon, dass mit der Zeugnisvergabe ein gewisser Stress aufkommt. Gerade jetzt zum Ende des Schuljahres, wo es um die Versetzung geht“, sagt Corinna. Die 14-jährige Gymnasiastin macht sich selbst zwar keine Sorgen um ihre Versetzung in die zehnte Klasse an der Marienschule, hat aber beobachtet, dass einige Mitschüler jetzt besonders unter Druck stehen. „Viele überspielen ihre Angst im Unterricht, aber zuhause erfinden sie Ausreden wegen ihrer schlechten Noten, weil sie ihre Eltern nicht enttäuschen wollen“, glaubt Corinna. Lucas (13) kennt das Problem aus eigener Erfahrung. Bei seinem Bruder habe die Versetzung auf der Kippe gestanden. Weil der einfach keine Lust mehr auf Schule und Lernen hatte, landeten auch die Noten im Keller. Zuhause sei die Stimmung deshalb ziemlich schlecht gewesen. „Wir alle wussten ja, er kann es schaffen, wenn er lernt“, erzählt der Siebtklässler. Seinen Bruder habe diese Situation am Ende sehr belastet.
Diese Erfahrung macht auch Thomas Aigner als Leiter des Psychologischen Dienstes alle Jahre wieder, vor der Zeugnisvergabe sei Hochsaison. Auch deshalb biete die Beratungsstelle für schulische und familiäre Angelegenheiten das Telefon bei Zeugnis-Sorgen „seit Jahrzehnten“ an. In den 70er und 80er Jahren habe es pünktlich zum Ende des Schuljahres eine Häufung von Schüler-Suiziden gegeben, sagt Psychologe Aigner. „Heute passiert das zum Glück nicht mehr so häufig, weil die Schulen durch Elternsprechtage und blaue Briefe schon im Vorfeld darauf vorbereiten, dass die Versetzung durch schlechte Noten gefährdet ist. So wird die Katastrophe nicht mehr an einem Tag offenbar.“ Dennoch: Mit etwa zehn Anrufen bei allen drei Stellen — Diakonie, katholischer Beratungsdienst und Stadt — rechnet der Psychologe auch an diesem Freitag. Die Zahl sei allerdings nicht ausschlaggebend, die Ängste der verhältnismäßig wenigen Anrufer wegen eines miesen Zeugnisses umso größer. Die Konsequenzen reichten von „Ich trau’ mich nicht nach Hause“ bis hin zu Selbstmordgedanken, weiß Aigner.
Er erinnert sich an einen Schüler, der vor einigen Jahren mit seiner Mutter in seinem Büro an der Petersstraße saß. Die Verzweiflung sei groß gewesen: „Beide hatten Angst davor, dass der Vater nach Hause kommt“, erinnert sich Aigner. Der habe seinem Sohn mit den Worten gedroht, „wenn du vom Gymnasium fliegst, dann habe ich keinen Sohn mehr“. Tatsächlich erlebten viele Schüler, die in die Beratung des Psychologischen Dienstes kommen, existenzielle Sorgen. „Schulischer Erfolg entscheidet schließlich über Lebenschancen“, erklärt Aigner. „Wenn die Familie unbedingt möchte, dass das Kind Abitur macht, dann wächst beim Schüler natürlich die Sorge, die Eltern zu enttäuschen.“
Seine Aufgabe bestehe darin, alle Ängste ernstzunehmen, betont Aigner. Auch wenn „die gefühlte Bedrohung“ am Ende nicht immer real sei: „Oft sind Eltern erschüttert, wenn sie erfahren, mit welchen Sorgen sich ihre Kinder quälen.“ Auffällig sei, dass vor allem Gymnasiasten zwischen zwölf und 14 Jahren die Nummer bei Zeugnis-Sorgen wählten: „Offenbar gibt es vor allem im gut situierten Mittelstand sehr hohe Leistungserwartungen, bei Gymnasiasten sind die Abstiegsängste höher“, vermutet Aigner. Nicht nur das: Schlechte Noten und Sitzenbleiben empfinden viele Schüler als Kränkung, „weil sie den Leistungsstandards nicht genügen“. Kritisch wird es, wenn Schüler ihren „eigenen persönlichen Wert mit schulischem Erfolg verbinden“, sagt der Psychologe.
Auch Rieke kann einen wachsenden Druck vor der Zeugnisvergabe nicht leugnen. Die 17-Jährige besucht die Jahrgangsstufe elf der Marienschule und will im nächsten Jahr Abitur machen. „Viele meiner Mitschüler wollen Medizin oder ein anderes Fach mit Numerus clausus studieren, die ärgern sich dann sogar über eine Zwei plus.“ Sie selbst würde die Nummer des Sorgentelefons aber nicht wählen, sondern eher mit Freunden oder Familie über ihre Probleme sprechen, sagt Rieke.