Ausstellung in der Burg Linn Als Lesehilfen noch ein Luxusgut waren
Linn · Das Museum Burg Linn stellt Brillen aus dem späten Mittelalter in seiner historischen Bibliothek aus.
Wie konnten die Menschen im Mittelalter sehen und lesen, wenn das Augenlicht schwächer wurde? Dieser Frage ist nun das Museum Burg Linn nachgegangen. Das Institut stellt in den nächsten Tagen Replikate von Sehhilfen spätmittelalterlicher Prägung in der historischen Bibliothek aus, wo auch noch alte Schriften aus derselben Epoche lagern.
Handgefertigt wurden sie quasi um die Ecke. Der in Linn lebende Optiker Georg Bruns und seine Mitarbeiter haben sich an den Versuch gemacht, alte Brillenmodelle nachzubauen. Aus Reststücken sei die Herstellung zweier solcher sehr frühen Arbeitswerkzeuge gelungen. Es sind Balkenbrillen entstanden, die denen aus dem späten 13. Jahrhundert ähneln.
Linner Optiker Georg Bruns hat tatkräftig mitgeholfen
Heute sind solche Bautypen ein modisches Accessoire aus Boutiquen, damals in den Anfängen jedoch noch ein sehr wertvolles Gut und ein exklusiver Luxus. Vor allem in Klöstern unter Mönchen und an Universitäten unter den Gelehrten waren sie gefragt. Im Kloster Wienhausen bei Hannover fand man in den 1950er Jahren unter dem Holzboden Originale, die all die Zeiten überdauert hatten. „Die nachgebauten Brillen werden im Museum Burg Linn nun die Ausstellung in der historischen Schreibstube ergänzen“, erklären Leiterin Jennifer Morscheiser und der Wissenschaftliche Dokumentar Boris Schuffels. Auch für Teile der Inszenierungen oder den Flachsmarkt seien die Replikate von Präsentationswert, hieß es weiter. Sogar die Darsteller des Heiligen Nikolaus oder des Linner Nachtwächters seien schon bei Georg Bruns vorstellig geworden, um ihre Kostümierung um eine möglichst zeitgemäße Sehhilfe zu verfeinern. „Für Führungen im mittelalterlichen Gewand wurde eine Brille oft nachgefragt“, erinnert sich Schuffels. Da habe man aber dann mangels Alternative immer auf Gläser und Gestelle aus dem 19. Jahrhundert zurückgegriffen, was natürlich nahe an einer Geschichtsklitterung gewesen sei, wenn es ganz genau nähme, wie es der Dokumentar in der Video-Pressekonferenz anmerkte. Man möchte sich fortan lieber Replikate aufsetzen und zeigen, wie es damals wirklich war. Da es jedoch kaum noch Originale aus dem Spätmittelalter gäbe, trat das Museum an den Linner Optiker Georg Bruns heran. Er machte sich schlau und fertigte eine Sehhilfe aus Naturhorn und Fischbein. Lange wurde die Brille gefeilt, um ihr jetziges Aussehen zu prägen.
Im Mittelalter nannte man künstliche Hilfen noch Lesesteine
Erste Lesehilfen soll es bereits im 13. Jahrhundert gegeben haben. Aus dem arabischen Raum kam die Idee auch nach der lateinischen Übersetzung des siebenbändigen Buches „Schatz der Optik“ des islamischen Gelehrten Alhazen nach Europa. Fortan sei auch in Italien nahe Venedig eine Manufaktur entstanden.
Eine Darstellung aus 1403 zeigt beispielsweise den „Brillen-Apostel“ Conrad von Soest, wie er sich seine damals übliche Nietbrille vor die Augen hält, um in einem Buch zu lesen. In früheren Phasen des Mittelalters nannte man solche künstlichen Hilfen noch „Lesesteine.“ Das waren Linsen aus glasklaren Mineralien, die man zur Vergrößerung der Buchstaben auf die Texte legte. Das heutige Wort „Brille“ sei aus dem Gesteinsnamen Beryll abgeleitet, aus dem die Gläser entstanden. „Alltagsbrillen wie heute hat es damals noch nicht gegeben. Sie wurden nur als Lesehilfen benutzt“, sagt Schuffels. „Durch die zunehmende Alphabetisierung hat auch die Nachfrage nach Brillen mit der Zeit zugenommen“, hat der Dokumentar herausgefunden.
Ab dem 16. Jahrhundert folgten Mehrstärken-Gläser für verschiedene Fokussierungsgrade, im 18. Jahrhundert auch erste Sehhilfen mit Bügeln zur Befestigung am Kopf. Bis zum Tragekomfort und zum Status eines Alltagsgegenstandes war es offenbar ein langer Weg.