Altenpflege Wenn Pflegende in Heimen beschimpft oder geschlagen werden
Die Evangelische Altenhilfe setzt sich intensiv mit dem Tabuthema „Gewalt in der Pflege“ auseinander. Julia Coenes vom Altenheim am Tiergarten berichtet davon, wie ihre Kollegen und sie im Alltag damit umgehen.
Die Evangelische Altenhilfe Krefeld hat ein Tabuthema aufgegriffen: Gewalt in der Pflege. Bekannt werden allenfalls Extremfälle, wenn etwa der „Mord im Altenheim“ in Rheinland-Pfalz bundesweit für Schlagzeilen sorgt. Doch Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen – angefangen von der Vernachlässigung über verbale Aggression bis zu körperlichen Übergriffen – gehören zum Alltag in der Pflege. „Vor diesem Thema wollen wir nicht die Augen verschließen“, heißt es in der jüngsten Ausgabe des Magazin „Wir“ der Evangelischen Altenhilfe.
Das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) hatte schon 2017 eine Studie zur Gewalt in Pflegeeinrichtungen veröffentlicht und 2018 eine Studie zum Thema Gewalt in der häuslichen Pflege folgen lassen. Erschreckendes Ergebnis: Fast jeder Dritte der gut 1000 Befragten gab an, in den vergangen sechs Monaten gegen die pflegebedürftige Person psychisch gewalttätig gewesen zu sein. Von körperlicher Gewalt berichteten zwölf Prozent. Hinzu kommt aber die laut ZQP wenig erforschte Aggression gegen Pflegende – Angehörige oder Profis in den Heimen. Genau mit diese Form der Gewalt hat sich die Evangelische Altenhilfe jetzt besonders intensiv beschäftigt.
Verbindlicher Leitfaden und Mitarbeitergespräche
In welchem Umfang kommt es überhaupt zu Aggressionen und Gewalt in der Pflege? Zahlen kann Julia Coenes, Pflegedienstleiterin im Altenheim am Tiergarten in Bockum, nicht nennen. Doch den Alltag kennt sie genau: „Es kommt immer mal zu Situationen, wo der Bewohner versucht, jemanden zu schlagen oder einen Mitarbeiter beleidigt. Es kommt auch vor, dass Bewohner aufgrund ihres Krankheitsbildes Gewalt ausüben, ohne den Hintergrund zu verstehen bzw. dies böse zu meinen. Gewalt ist meist ein Anzeichen von Verzweiflung oder Überforderung. Vereinzelnde Fälle können schon mal im Laufe einer Woche vorkommen.“
Klar ist: Bewohner in Pflegeheimen geben mit dem Einzug einen großen Teil ihrer Selbstständigkeit auf. Viele Aktivitäten werden genau strukturiert, um einen reibungslosen Ablauf in der Einrichtung zu gewährleisten. Und das wiederum führt bei manchen Bewohner dazu, dass sie Aggressionen entwickeln, da sie ihren Tagesablauf nicht mehr selbst bestimmen können. Auch Depressionen im Alter führen zu aggressivem Verhalten.
In welcher Form kommt Gewalt vor? Julia Coenes berichtet von körperlicher und psychischer Gewalt: Da wird angeschrien, beschimpft, aber auch angepackt, gezerrt, geschlagen. Das Probleme habe sicher schon immer in der Pflege existiert, nur sei früher darüber nicht gesprochen worden. „Das Thema wurde erkannt und ist Teil unserer Besprechungskultur“, berichtet sie – etwa durch einen verbindlichen Leitfaden, Fallberatungen, Mitarbeitergespräche oder kollegiale Beratungen.
In der Evangelischen Altenhilfe sei man für solche Fälle geschult: Es gebe Fortbildungsreihen, bei der Gewaltprävention etwa in Rollenspielen eingeübt werde. Als Pflegender müsse man professionell mit solchen Situationen umgehen, sei auch nicht allein mit dem Problem. „Ganz schwierige Menschen versorgen wir zu zweit.“
Auch sexuelle Übergriffe kommen vor – bis hin zu regelmäßigen Griffen an den Po. Schwierig ist dies vor allem, wenn demenzkranke Bewohner diese Form der Gewalt ausüben. Dazu Julia Coenes: „Wir versuchen in solchen Fällen zu validieren. In der Handlung geht es ja zunächst um ein Gefühl, welches im Vordergrund steht. Mitarbeiter haben die Möglichkeit, Situationen zu verlassen oder einen Kollegen hinzuzuholen. Es gab auch schon Bewohner, die dann nur von einem Mann oder einer Frau gepflegt werden konnte. Wichtig ist, dass solche Situationen nicht unter den Teppich gekehrt werden.“
Das gilt auch für mögliche Gewalt von Pflegepersonal gegen Bewohner. Julia Coenes: „Wir hoffen, dass dieses Thema in unserem Verbund genauso besprochen wird, dass Mitarbeiter eine Überforderung oder Hilflosigkeit mit den Kollegen oder Vorgesetzten bespricht und nicht in Situationen kommt, dem Bewohner gegenüber gewalttätig zu werden.“ Hier fange die Stufe ja auch sehr niedrig an, bespielweise bei Körperpflege ohne Einverständnis oder zu kleinen Portionsgrößen beim Mittagessen. „Gewalt findet da statt, wo jemand in seiner Eigenständigkeit oder in seinem Willen eingeschränkt wird“, betont Coenes.