Porträt Eine gute Freundin
Sarah Bell ist neu in der Stadt. Porträt einer Frau, die weiß, wie sehr das Leben austeilen kann.
Von Sarah habe ich dir noch nicht erzählt, oder? Am ersten August ist Sarah Bell, 39, nach Uerdingen gezogen. Mit ihren Katzen Momo und Sina und mit ihrem Ehemann Dennis. Das Blöde, wenn man in eine neue Stadt zieht: Freundinnen ziehen nicht mit. Ich glaube, es gehört zu den schwierigsten Dingen der Welt, als Erwachsene noch neue Freunde zu finden. Sarah Bell wird auch keine bei der Arbeit kennenlernen. Vor zwei Jahren blieb ihr nur der Gang in die Frührente. Sie hat zwar einige Freundinnen, aber das sind Brieffreundinnen. Sie schreiben sich richtige Briefe mit der Hand, was ihr viel besser gefällt als E-Mails, Telefonieren und Whatsapp. Doch mit Brieffreundinnen kann sie sich nicht mal eben auf einen Kaffee verabreden.
Sarah Bell hat schon versucht, in Krefeld jemanden zu finden. Aber in ihrem Alter haben Frauen meist Kinder, und dann reden sie auch mit ihren Freundinnen darüber, die ebenfalls Kinder haben. Sarah Bell mag Kinder, hat aber selbst keine und kann wenig zu den Gesprächen beitragen. Einmal saß sie mit so ein paar Frauen zusammen an der Rhine Side, bis es ihr irgendwann doch zu viel wurde. Sie hat sich von den anderen verabschiedet und ist gegangen.
Auch in eine Krefelder Facebook-Gruppe hat Sarah Bell etwas gepostet. Dort war zu lesen: „Hallo Ihr Lieben, wie geht es Euch? Ich wohne seit Kurzem in Krefeld und suche neue Kontakte. Ich höre sehr gerne The Kelly Family. Vielleicht finde ich ja hier den ein oder anderen Gleichgesinnten, das wäre schön.“
Okay, du hast jetzt Kelly Family gelesen. Vielleicht denkst du: Hey, super, die mag ich auch. Vielleicht denkst du aber so was wie: Kelly Family? War das nicht diese singende Altkleidersammlung? Aber hör mir erst mal zu. Sarah Bell hat nicht einfach irgendwann beschlossen, auf die Kelly Family zu stehen. Da steckt viel mehr dahinter.
Du musst wissen, die Umstände haben es ihr schon immer schwer gemacht. Sarah Bell ist mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen, der sich „Transposition der großen Gefäße“ nennt. Eine genaue Erklärung erspare ich dir, aber sie musste viele Operationen über sich ergehen lassen, und auch danach leistete ihr Körper viel weniger als ein gesunder. Sie fehlte häufig in der Schule, weil sie krank war oder zur Therapie musste, einige Mitschülerinnen hielten sie für faul, dabei hatte sie bloß Pech gehabt. Sie sagt, sie hatte nur eine gute Freundin. Sarah Bell wuchs sehr sehr behütet auf, die Mutter wachte über ihre Tochter, als sitze sie im Glashaus.
Richtig, die Kelly Family. Sarah Bells Vater machte sich vom Acker, als sie sieben war. Die Kelly Family trat kurz danach in ihr Leben. Die Kelly Family war nach außen hin die glückliche Familie, die sie selbst nie hatte. Dass es hinter den Kulissen der Kelly Family auch mal ganz anders zuging, wusste sie damals noch nicht. Sechs, sieben Ordner füllte sie mit Artikeln und Fotos der Gruppe, mit den Postern tapezierte sie ihr Kinderzimmer. Bloß zu Konzerten traute sie sich damals nicht. Sie hatte Angst, ihr Herz würde das nicht mitmachen. Auch später war die Kelly Family zur Stelle, als Sarah Bell sie brauchte. Sie war ein Teenager, als wieder einmal eine große Herz-OP anstand, eine, bei der nicht ausgemacht war, ob das so alles funktionieren würde. Sarah Bell litt große Angst. Bis in den OP-Saal hinein durfte sie deshalb ein Album der Kelly Family hören. Es hieß „Almost Heaven“ und der Song, zu dem sie wegschlummerte, „Every Baby“. Da ist sie ganz sicher.
Wäre sie nicht wieder aufgewacht, hätte sie als Allerletztes immerhin die Musik ihrer Lieblingsgruppe gehört. „Every baby needs a mama, needs a papa close at hand / Oh little baby you’re not alone.“ Die Operation verlief eher mittelmäßig, das Zwerchfell riss, berichtet sie, aber sie wachte dann doch wieder auf. Mehrere Tage lag sie auf der Intensivstation, sie erinnert sich an eine Menge Schläuche. Um sie abzulenken, spielte man ihr die Videokassetten der Kelly Family vor, die Sarah Bell mitgebracht hatte.
Du kannst die Kelly Family immer noch blöd finden, aber du verstehst jetzt sicher, warum sie die Musik auch mit 39 noch hört. Bis heute hat sie die CDs der Kelly Family, die sie als Teenager kaufte, im Schrank stehen, 15, 16 Stück. Sie hatte mal knapp 2000 CDs, NSYNC, Bravo Hits. Hat sie fast alles verkauft. Die von der Kelly Family aber hat sie behalten. Andere Künstler hört sie auf Spotify, doch ihre Helden hört sie auf CD. Die Kelly Family sei ihr heilig, sagt sie. Ihr Name klingt ja selbst, als wäre sie eine britische Popsängerin. Aber man spricht ihn nicht Englisch aus, nicht Sära, nicht Bell wie die Glocke, sondern Sara Bell, Bell wie der Hund.
Doch nicht nur die Kelly Family hat dazu beigetragen, dass Sarah Bell bisher nicht eingeknickt ist. Was ihr Körper nicht leisten kann, leistet sie eben selbst. Du musst sie mal sprechen hören. Da klingt sie ganz so, als sei nie etwas vorgefallen. Sie hat eine fast noch mädchenhafte Stimme, eine, die fröhlich klingt und warm. Sie sagt häufig: „Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen.“ Die Hände faltet sie beim Reden häufig vor dem Bauch. Sie kann lachen, sie kann kichern wie eine 13-Jährige. Aber eines kann Sarah Bell nicht: jammern. Sie jammert einfach nie. Dabei hätte sie allen Grund dazu. Sie könnte über ihr Herz jammern. Darüber, dass sie deshalb nicht mehr arbeiten darf. Darüber, dass sie seit einem Jahr für längere Strecken einen Rollator braucht. Darüber, dass sie nie versucht hat, Kinder zu bekommen. Eine eigene Kelly Family hatte sie gründen wollen. Schon als Jugendliche wurde ihr gesagt: Vergiss es. Weil ihr Körper die Anstrengung vielleicht nicht mitgemacht hätte, weil die Gefahr bestand, den Herzfehler ans Baby weiterzugeben. Vor vier Jahren starb ihre Mutter an Krebs, mit 62. „Kein Alter“, sagt Sarah Bell.
Auch ihr Mann Dennis jammert nicht. Mit 17 hatte er einen Schlaganfall, seitdem ist seine linke Körperhälfte stark eingeschränkt. Sarah Bell sagt: „Bei uns war es so – wenn wir dachten, die Platte ist aus, es wird ruhig, kam neuer Schrott.“ Sie ist eine von diesen Menschen, für die das Glas immer halb voll ist. Sie sagt, ohne den Herzfehler und ohne den Schlaganfall hätten sie sich nicht kennengelernt, auf einer Schule in Aachen für Menschen mit Behinderung. Seit elf Jahren sind sie ein Paar, seit neun Jahren verheiratet. Er hört völlig andere Musik, Metal, Rock, einmal ging er ihr zuliebe mit auf ein Konzert von Patricia Kelly und sagte im Anschluss, das reiche für die ganze Familie. Er liebt an ihr, dass sie so eine liebevolle Art hat, sie an ihm, dass seine Ruhe sich auf sie übertragt, sie mit ihren Angststörungen, die eben entstehen, wenn im eigenen Leben ständig etwas Schlimmes passiert. Er hat sie mit auf Reisen genommen, Österreich, Spanien, Belgien, Frankreich, Niederlande. Zuvor war sie zuletzt als Dreijährige im Urlaub gewesen, sagt sie. Sonst hieß Urlaub für sie, in den Garten der Großeltern zu gehen, die auf derselben Straße wohnten. Aus jeder Stadt bringen Sarah und Dennis Bell einen Kühlschrank-Magneten mit. Mittlerweile haben sie 50 bis 60 Stück.
Lange haben sie in Eschweiler bei Aachen gewohnt, aber der öffentliche Personennahverkehr war eine Katastrophe, nach dem Hochwasser 2021 wurde es noch schlimmer. Keiner der beiden hat einen Führerschein, mal wieder sind die Krankheiten schuld. Sarah Bell arbeitete viele Jahre im Büro eines Wohlfahrtsverbandes. Man gab ihr dort, so berichtet sie, regelmäßig zu verstehen, so jemand wie sie solle froh sein, überhaupt einen Job zu haben. Sie kündigte trotzdem. Mit ein wenig Stolz sagt sie, dass nach ihr noch acht weitere Personen gegangen seien. Ihr Mann Dennis ist in Linn aufgewachsen, nach Krefeld sind sie August gezogen, weil seine Mutter gepflegt werden muss. Sie wohnen in der Nähe des Uerdinger Bahnhofs, können mit Bus und Bahn überall hin. Den Einkauf erledigen sie mit Trolley und Rollator. „Wir werden satt“, sagt Sarah Bell. Ja, sie wisse, dass Krefeld nicht die schönste Stadt sei, aber schöner sei es ja immer irgendwo. Während Sarah Bell Freundinnen sucht, sucht Dennis einen neuen Job. Am liebsten wäre er wieder Alltagshelfer für Demenzkranke, so wie er es vor dem Umzug war.
Die Wohnung ist jetzt größer, es gibt einen Aufzug, genug Platz für die beiden Katzen Momo und Sina und das Terrarium, in dem Dennis seine beiden Geckos hält. Das Wohnzimmer der beiden ist voll mit Drachenfiguren und Schwertern und Harry-Potter-Fanartikeln. Ihre Puzzle muss Sarah Bell noch an die Wand hängen. Aber sie darf keine Bohrmaschine benutzen, und Dennis könnte nur einen Arm einsetzen. Bei 1500 Teilen sei Schluss, sagt sie, für mehr habe sie weder Geduld noch Platz. Die Puzzle zeigen idyllische Landschaften oder Szenen aus Bud-Spencer-Filmen, die sich beide gerne ansehen.
Ist also schon fast alles da, nur eine gute Freundin fehlt Sarah Bell noch. Das Alter ist ihr egal, die Chemie müsse halt stimmen. Kaffee trinken, mal ins Städtchen, ein Eis essen. Mehr möchte sie doch nicht, die Frau, die ein kaputtes Herz hat, aber auch ein sehr großes. Wer Sarah Bell kennenlernen möchte, der kann ihr gerne eine E-Mail schreiben:
sarah.bell1984@gmx.de