Krefelder Geschichte Am Freitagabend ist in Krefeld der Krieg vorbei

Am 2. März 1945, heute vor 75 Jahren, erobern US-Truppen die Stadt. Die Nazi-Größen sind schon längst geflohen. Sie wollen ein Chaos zurücklassen.

Kriegsgerät wird zum Spielplatz: Krefelder Jugendliche posieren unmittelbar nach Kriegsende auf einem zerstörten deutschen „Panther“-Panzer.

Foto: Andreas Bischof

Es ist Freitag, der 2. März 1945. Schon am frühen Morgen befindet sich Richard Lorentzen in der Krefeld Innenstadt. Er ist seit wenigen Stunden Leiter der Krefelder Stadtverwaltung, denn die komplette Verwaltungsspitze, die meist aus strammen NSDAP-Mitgliedern besteht, hat sich mit Sack und Pack über den Rhein vor den rasch näher kommenden US-Truppen abgesetzt – allen voran Oberbürgermeister Aloys Heuyng. Der politisch unbelastete und erfahrene Verwaltungsbeamte Lorentzen mit Dienstsitz in Linn war tags zuvor „im Falle einer Feinbesatzung zur Betreuung der zurückgebliebenen Bevölkerung“ schriftlich und ohne weitere Vorbereitung zum „Leiter der Restbehörde“ bestimmt worden. Ganze elf Mitarbeiter stehen ihm zur Betreuung der rund 125 000 Krefelder, die sich noch in der Stadt befinden, zur Verfügung.

Zumindest in der Theorie. Tatsächlich hat sich an diesem eiskalten Morgen außer Lorentzen nur noch Stadtoberinspektor Pöllen zum Dienst eingefunden. Kein Wunder: Die Krefelder Innenstadt liegt unter heftigem Artilleriebeschuss, die Straßen sind menschenleer, Flieger kreisen über der Stadt. Vor dem immer heftiger werdenden Granaten-Feuer flüchten die beiden Stadt-Mitarbeiter schließlich in den Bunker am Albrechtsplatz – den Lorentzen trotz der damit verbundenen Risiken schon bald wieder verlässt: Die engen Räume sind völlig überfüllt, die Luft ist unerträglich, er hält es dort nicht länger aus.

1954 berichtet Stadtarchivar Carl Müller in einer Zeitungsserie unter dem Titel „So wurde Krefeld gerettet“ von den Zuständen im Bunker am Hauptbahnhof. „Die Luft war so schlecht, dass viele Menschen in Ohnmacht fielen.“ Bis zu 15 000 Menschen haben zu diesem  Zeitpunkt dort Schutz gesucht. Am Bunker am Röttgen in Uerdingen sind es 5000, doch auch hier ist die Situation kaum auszuhalten: Es ist stockdunkel, die Klos sind verstopft, Urin rinnt durch die Gänge. Und auch Müller hält fest, dass sich die Parteigrößen zu diesem Zeitpunkt schon auf die rechte Rheinseite abgesetzt haben – „ohne besondere Segenswünsche“.

Die schriftlich festgehaltenen Erinnerungen von Lorentzen, Zeitungsartikel wie der von Müller sowie viele Tagebuch-Abschriften im Stadtachiv legen ein lebendiges Zeugnis davon ab, wie die Lage an dem Tag war, an dem in Krefeld der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Der frisch ernannte Verwaltungschef berichtet von Plünderungen, so am Nachmittag, als das Proviant-Amt an der Vorster Straße (eine ehemalige Kammfabrik) gestürmt wird. Mit dem Rad ist Lorentzen persönlich dorthin gefahren, um sich die Sache anzusehen: „Die Kampfhandlungen waren schon so nahe an den Bahndamm herangekommen, dass die Luft von pfeifenden Geräuschen der stadteinwärts gerichteten Kleinkaliber-Geschosse erfüllt war. Die Menschenmenge ließ sich aber nicht stören und setzte das Wegschleppen von Säcken, Kisten, Eimern, Lebensmitteln (...)  fort, ohne sich um den Lärm in der Luft zu kümmern.“

Die letzten deutschen Truppen unter  Stadtkommandant Walter Weiss ziehen sich im Laufe des Tages aus Krefeld zurück. „So kam es zu Beginn der Dämmerung zu einer kampflosen Besetzung der Stadt“, schreibt Lorentzen später auf. Als er selbst vom Proviant-Amt aus zurück in die Innenstadt fährt, trifft er auf der Marktstraße auf die erste amerikanische Panzerkolonne. Sie wird von Fußtruppen begleitet – „unter fortwährendem Schießen aus in die Luft gerichteten Maschinenpistolen“.

Tags darauf, also am Samstag, 3. März, richtet der amerikanische Stadtkommandant seien Amtssitz im alten Krefelder Hof ein. Schier endlose Militärkolonnen der Amerikaner durchqueren Krefeld. Ein Mann aus Verberg schreibt in sein Tagebuch: „Alle Häuser in der Straße hängen weiße Fahnen raus. Wir auch.“ Johannes Höffges aus Bockum erinnert sich: „Wenn auch nicht mit Begeisterung, sondern mit einem Gefühl der Erleichterung wurden die Besatzer aufgenommen.“ Einige US-Soldaten verteilen Schokolade und weißes Brot an Kinder.

Karl Brillen aus Linn hält am 3. März fest: „Das Ende des Krieges ist gekommen, wenigstens für uns. Gott sei gelobt!“ Zur 59. Wiederkehr seines Geburtstages habe er das schönste Geschenk erhalten: „Die Befreiung meiner Heimatstadt von den Nazis.“ Mittags um 12 Uhr melden die amerikanischen Befehlshaber: Krefeld ist besetzt.

In Uerdingen wird aber noch heftig gekämpft: Deutsche Truppen halten dort weiterhin einen Brückenkopf. Erst am frühen Morgen des 4. März wird die „Adolf-Hitler-Brücke“ über den Rhein gesprengt.

Am Morgen des selben Tages wird Richard Lorentzen von seiner Wohnung an der Wangenheimstraße abgeholt und in die US-Kommandantur im Krefelder Hof gebracht. Nachdem man erst seine politische Gesinnung überprüft hat – den Amerikanern erscheint er zunächst unwahrscheinlich, dass der Mann aus dem Rathaus kein Nazis ist – wird er gefragt, wen er für das Amt des Bürgermeisters für geeignet hält. Er schlägt den ehemaligen Krefelder Beigeordneten und späteren Bürgermeister von Kleve, Dr. Johannes Stepkes, vor. Der katholische Zentrums-Politiker und Jurist war 1933 beurlaubt und 1934 in den Ruhestand versetzt worden. Nun wird er von den Amerikanern mit der Bildung einer Zivilverwaltung beauftragt. Zum Verwaltungschef wird Richard Lorentzen ernannt. Sitz der neuen Stadtverwaltung wird das ehemalige katholische Waisenhaus an der Nordstraße.

In den Tagen danach normalisiert sich das Leben – sofern unter diesen dramatischen Umständen von Normalisierung gesprochen werden kann. Strom- und Wasserversorgung werden gesichert,  am 9. März gibt die Militärverwaltung die ersten Lebensmittelkarten aus. Am 16. März ruft Dr. Stepkes die Bevölkerung zu Ruhe, Geduld und Sparsamkeit mit Lebensmitteln auf. Tags darauf strömen 20 000 obdachlose Flüchtlinge in die teilweise evakuierte Innenstadt. 8000 davon werden untergebracht, der Rest zieht in Richtung Viersen weiter.

Schon am 21. März nimmt die Spakasse Krefeld wieder ihren Betrieb auf: Den Inhabern von Girokonten werden 300 Reichsmark ausgezahlt – der Alltag geht irgendwie weiter. Der Plan der Nazis, von dem Lorentzen in seiner Erinnerungen berichtet, ist offenkundig nicht aufgegangen: „Man wollte dem Feind ein Chaos hinterlassen.“

Übrigens: Der ehemalige Oberbürgermeister Aloys Heuyng – er hatte das Amt ab 1933 bekleidet – zog in den 1950er Jahren gegen die Stadt Krefeld vor Gericht. Mit Erfolg: Bis zu seinem Tod 1973 wurde dem Mann, der trotz wiederholter antijüdischer Hasstiraden als bloßer Mitläufer des Regimes eingestuft wurde, eine monatliche Pension von 1400 Mark zugesprochen.