Hintergrund Wahnvorstellungen lassen Menschen aus Liebe töten

Nachgefragt: Ein Gespräch mit Dr. Andreas Horn, Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie der Alexianer Krefeld.

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Krefeld. Für einen dramatischen Fall wie am frühen Montagmorgen in Krefeld-Hüls, wo eine Mutter drei kleine Kinder aus dem Fenster eines Hauses geworfen und danach einen Selbsttötungsversuch unternommen haben soll, gibt es mehrere Erklärungsansätze. Wir fragten bei Dr. Andreas Horn, Direktor der Psychiatrisch-Psychotherapeutischen Kliniken und Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie der Alexianer in Krefeld nach.

Die häufigste Ursache einer solchen Tat ist ein erweiterter Suizid oder Suizidversuch, nachdem der Betroffene schon länger Selbstmordgedanken hegte, erläutert Horn _ ausdrücklich, ohne eine Aussage über den aktuellen Fall treffen zu wollen. Bei 1,5 Prozent aller Suizide in Deutschland - etwa 10 000 gelingen in jedem Jahr - handele es sich um solch einen Fall. In den meisten Fällen liege dem sogenannten Mitnahmesuizid oder erweiterten Suizid eine schwere wahnhafte Depression zugrunde.

„Die Gründe des Täters sind altruistisch, nicht egoistisch, so merkwürdig das klingt“, sagt Dr. Andreas Horn. „Die Betroffenen sind ernsthaft davon überzeugt, die Menschen, die sie mitnehmen, vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren.“

Die „sehr schwere Depression“ geht in solchen Fällen mit psychotischen, wahnhaften Vorstellungen einher. „Die Menschen haben beispielsweise die wahnhafte Vorstellung zu verarmen, so dass ihre Kinder verhungern müssten. Um sie vor diesem Schicksal zu bewahren, wählen sie den Tod der geliebten Personen. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist einfach: Lieber ein kurzer Tod als ein langsames und schmerzhaftes Sterben.“

Es gebe den Verarmungswahn, aber beispielsweise auch einen Schuldwahn, erläutert Horn. „Die Menschen sind überzeugt, schwere Schuld auf sich geladen zu haben und glauben, so nicht weiterleben zu können.“

Unabhängig davon gebe es auch die Form der schizophrenen Wahnvorstellung oder der Halluzination. „Die Betroffenen hören dann beispielsweise eine Stimme, die ihnen Befehle erteilt, oder sie fühlen sich von gefährlichen Spähern verfolgt, die nach ihrem Leben trachten.“ Auch in solchen Fällen könne es den erweiterten Suizid geben. „Die Menschen wollen prophylaktisch tätig werden. Sie wollen ihnen liebe Menschen durch die Tötung vor schlimmerem Leiden bewahren, dass sie ansonsten erwartet.“ In ganz wenigen Ausnahmen, ergänzt Horn, seien Wut oder andere Hintergründe ausschlaggebend für eine solche Tat. Diese Fälle würden gutachterlich und strafrechtlich natürlich anders bewertet.

Was wichtig ist: Die Fälle der schwersten Depression oder Schizophrenie „sind in der Regel sehr gut heilbar“, sagt Horn. Unproblematisch ist aber auch das nicht. „Viele Erkrankte sind nach der Heilung suizidgefährdet, weil ihnen bewusst wird, was sie getan oder versucht haben.“ Es sei die Herausforderung für Arzt und Therapeuten, dem Menschen klar zu machen, dass vom ihm keine Gefahr mehr ausgehe.

Können solche Taten verhindert werden? Andreas Horn: „Es gibt Menschen die ein erhöhtes genetisches Risiko haben. Wenn dann lebensgeschichtliche Ereignisse und eine konkrete Belastung dazukommen, ist eine solche dramatische Entwicklung der Situation in sehr seltenen Fällen möglich.“

Gibt es Anzeichen für solch eine Tat? „In der Regel gibt es einen Vorlauf und Hinweise, die erkennbar sind“, sagt Andreas Horn. „Äußert jemand Suizidgedanken, sollte man das immer ernstnehmen. Fast alle, die sich selbst töten, haben vorher Signale ausgesendet oder um Hilfe gebeten.“ Je nach Schwere der Erkrankungen fehle Betroffenen möglicherweise aber auch Einsicht. Ärztliche Notdienste oder der Notdienst der Feuerwehr sind nicht nur für sie, sondern auch für Familie und Freunde erste Wahl, wenn ein Notfall erkannt wird. „Die Kliniken haben rund um die Uhr Bereitschaftsdienste“, sagt Horn. Telefonseelsorge, Hausarzt, Beratungsstellen und die Krisenhilfe seien Adressen, an die man sich wenden könne.