Palliative Care „Mein Sohn ist immer noch tot!“

Serie | Kreis METTMANN · Florian Kantel (17) starb vor neun Jahren an Krebs. Seine Mutter erinnert sich daran, wie die Familie nach dem Tod von „Flo“ weiterleben konnte. Ein Gespräch über Verlust und Trauer.

Ein Bild aus den guten Zeiten, als Florian Kantel noch lebte. Er blickt nachdenklich auf die Wellen.

Foto: Privat

Florian ist tot. Der 17-Jährige, den sie alle nur Flo nannten, starb vor neun Jahren an Krebs. Monatelang hatte die Familie inmitten der Chemotherapie gehofft, dass er es vielleicht doch noch schafft. Als der Krebs zurückkehrte, rückte die Hoffnung in weite Ferne. Florian selbst hat nie geklagt und alles tapfer hingenommen, er wollte vor allem eines: Leben.

„Wir haben leider nicht über das Sterben gesprochen“, erinnert sich Martina Kantel. Beinahe ein Jahrzehnt nach dem Tod ihres jüngsten Sohnes tut sie es dann doch. In einem Kurs für ehrenamtliche Hospizbegleiter im Franziskus-Hospiz in Hochdahl. Ihre Erfahrungen weitergeben und Menschen beistehen, die Ähnliches durchmachen müssen, das kann sie sich mittlerweile gut vorstellen.

Sie versucht, einfach weiterzumachen. Dabei ist nichts mehr wirklich einfach nach einem solchen Schicksalsschlag. Erst kürzlich habe ein Bekannter sie gefragt, ob das denn immer noch sein müsse mit der Trauer. Geantwortet hat sie: „Ja! Mein Sohn ist immer noch tot!“ Das Leben der anderen gehe weiter, ihr eigenes sei anders geworden.

Als sie im Oktober 2013 vom Arzt die Diagnose hört, legt sie ihre Uhr ab. „Die Zeit ist damals für mich stehen geblieben“, erinnert sie sich. Dass sie ihren eigenen Sohn beerdigen muss: Das kann alles nicht wahr sein. Zuhause sind sie alle bei Florian, irgendwann leben sie im Rhythmus des Sterbenskranken. Sie drehen ihn um in seinem Bett, weil er es selbst nicht mehr schafft.

Die Eltern, die Geschwister, deren Freunde: Sie alle sind bei ihm, als Flo am 29. Dezember 2014 stirbt. Mehr als 200 Leute kommen zur Beerdigung. Sie alle hören, was die Familie über ihn erzählt. Man ahnt, was es bedeutet, wenn eine Mutter Worte wie diese am Grab ihres Kindes sagt: „Mir zerreißt es das Herz. Was soll ich sagen, diese Endgültigkeit…“ Die Schwester erinnert sich an einen Morgenmuffel, mit dem sie gerne an der Playstation gezockt hat. An einen Bruder, der den Mut nie verloren und auch dann noch gelacht hat, wenn es eigentlich nichts mehr zu lachen gab. Sie wollten mit ihm weiterleben, nun wollen sie es für ihn tun. Eine Trauerfeier gab es damals nicht, die haben sie später nachgeholt. Am Lagerfeuer, mit Lieblingssongs von Flo.

„Wir haben nichts mehr als schön empfunden“, erzählt Martina Kantel. Sie hat geweint, als sie zum ersten Mal wieder auf der Skipiste stand – ohne Flo. Die Schwester wollte keine Kinder, um so einen Schmerz nicht ertragen zu müssen. Florians Bruder sagt den Eltern damals, dass er eigentlich auch sterben möchte. Sie besuchen ein Trauerseminar, jeder geht jeder anders mit der Trauer um. Flo hätte gerne einen Hund gehabt, der begleitet nun seine Schwester. Vor ein paar Wochen hat sie ihre Wohnung gekündigt, um in ein Wohnmobil umzuziehen, mit dem sie auf Reisen gehen will. Wünsche und Sehnsüchte in die Zukunft schieben: Warum sollte man das tun? Das Leben kann so schnell vorbei sein.

Das Leben danach
ist nicht mehr das gleiche

„Es gibt ein davor und ein danach“, weiß Martina Kantel. Sie hat sich den Fingerabdruck ihres Sohnes und seinen Namen tätowieren lassen. Sie fährt ein Auto mit seinen Initialen auf dem Nummernschild. Sie fragt sich, was ihr Sohn heute so machen und wie er leben würde. Jahrelang haben sie die eigenen Geburtstage nicht mehr gefeiert, und auch kein Weihnachtsfest. Freundschaften sind zerbrochen, weil die Freunde nicht mit der Trauer umgehen konnten. Es gibt Leute, die nie danach gefragt haben, wie es ihr geht. Aber es gibt auch das: An Florians Geburtstag kommen noch immer seine Freunde zu Besuch zu den Kantels. Dann gehen sie zusammen zum Grab.

Streitigkeiten empfindet Martina Kantel als Zeitverschwendung, so wie auch vieles andere, was andere Leute im Alltag nervt. Sie ist durchlässiger geworden und nein, die Zeit heilt keine Wunden. Man lernt nur, mit dem Schmerz zu leben. Und dann sagt Martina Kantel das: „Ich möchte nicht, das unser Sohn vergessen wird.“ Sie schreibt ein Buch über das Leben mit Flo.