Interview Hermann Strasser und Amelie Duckwitz „Es ist eine lügenhafte Inszenierung“

Interview | Ratingen/Duisburg · Der Nestor der Sozialwissenschaft aus Duisburg hat mit einer Kölner Medienwissenschaftlerin die Influencer-Szene wissenschaftlich beleuchtet – und darüber ein Buch geschrieben.

Auf Instagram ist eine Vielzahl von Influencern zu finden. 

Foto: dpa/Fabian Sommer

(pk) Der Ratinger Hermann Strasser, von 1977 bis 2007 Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Uni Duisburg-Essen, und Amelie Duckwitz (Jahrgang 1977), Professorin für Medien- und Webwissenschaft an der TH Köln, haben sich in einer Studie mit der Frage beschäftigt, wozu Prominente und Influencer eigentlich gut sind. Ihr Buch „Promis im Wandel: Von den Celebritys zu den Influencern“ ist aufschlussreich, lässt einen gelegentlich auch schmunzeln.

Wie hat sich der Begriff Prominenz in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt?

Hermann Strasser: Wie der englische Begriff „Celebrity“ schon sagt und die Tradition nahelegt, sind die Prominenten die Gefeierten. Sie sind berühmt, weil sie herausragen, worauf wiederum das lateinische Wort „prominere“ hinweist. Die Prominenten ragen auch heraus, weil sie zu allem und jedem etwas zu sagen haben. Sie sind tonangebend, Meinungsführer, nicht nur in den Boulevardmedien und in der Werbung. Schließlich versuchen viele Promis, ihren Status durch eine soziale Haltung zu untermauern. Durch soziales Engagement, gezieltes Auftreten, zum Beispiel in Galas und TV-Sendungen, und durch eine mehr oder weniger geschönte Biografie versuchen sie, den Erwartungen der Öffentlichkeit zu entsprechen. Die Öffentlichkeit ist immer dabei.

Hermann Strasser lehrte an der Uni Duisburg-Essen.

Foto: Hermann Strasser

In Ihrem Buch beschreiben Sie unter anderem die „täuschende Influencer-Kultur“ und die „Selbsterhitzungsmaschinerie“ bei Facebook und Co. Welche Gefahren sehen Sie da für die „Generation Selfie“?

Strasser: Die Generation ist vor allem einer lügenhaften Inszenierung von Authentizität ausgesetzt. Im Influencer-Versprechen tut sich eine große Lücke auf zwischen authentisch sein und die demonstrative Verkörperung des Gegenteils. Denn es geht ums Geschäft. Aufgrund dieser Erfahrung der täuschenden Influencer-Kultur wird Authentizität zwar wieder mehr geschätzt. So empfiehlt man inzwischen die „Oprahfication“ als Therapie – benannt nach der amerikanischen Moderatorin Oprah Winfrey – Verfehlungen öffentlich einzugestehen. Aber am Ende wird auch da der Spieß umgedreht und werden versteckte Werbebotschaften untergebracht. In der Selfiekratie ist „Like me“ zur Devise geworden.

Amelie Duckwitz ist Professorin für Medienwissenschaft.

Foto: Amelie Duckwitz

Was steckt dahinter?

Strasser: Es geht einerseits um die Suche nach Selbstbestätigung, andererseits ist viel digitaler Schwindel im Spiel, um die virtuelle Scheinwelt zur Freudenwelt zu machen. Besondere Gefahren betreffen auch Kinder, wie wir im Buch an einigen Beispielen darstellen. Denn mit dem Influencer-Dasein lässt sich auch der Haupterwerb bestreiten. Manche Eltern leben von der digitalen Vermarktung ihrer Kinder und geben sogar ihren Beruf auf. Durch die Mini-Influencer eröffnet sich für die Werbebranche der Zugang zu neuen Zielgruppen. Immer mehr Kinder geben Influencer schon als Berufswunsch an.

Frau Duckwitz, aus den Mündern von Prominenten hört man bisweilen die Worte: „Ich habe eine Verantwortung gegenüber meinen Fans.“ Soll man da zustimmen oder Größenwahn diagnostizieren?

Amelie Duckwitz: Es wäre wünschenswert, dass sich Prominente und Influencer dieser Verantwortung mehr bewusst sind, allerdings nicht in dem Sinne, dass die Fans von ihnen erwarten, ständig präsent zu sein. Promis, auch Influencer, fungieren oft als Vorbilder, als Meinungsführer, die mit ihren Einstellungen und Verhaltensweisen soziale Rollenbilder vorleben und damit Orientierung geben. Influencer – deshalb werden sie auch so bezeichnet – haben das Potenzial, ihre Follower zu beeinflussen.

Dabei tun manche Influencer so unschuldig...

Duckwitz: Ob sie jetzt Produkt A oder B bewerben, hat dabei eine geringe Relevanz und hängt vom Budget der Auftraggeber ab. Wenn dieses Geschäftsmodell aber einen konsumgeprägten Lifestyle vorsieht, verbunden mit gesundheitsgefährdenden Schönheitsidealen und überkommenen Familienmodellen, hat das eine gesellschaftsweite Bedeutung. Auch jeder Promi, der sich zu seiner Impfbereitschaft äußert, sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein.

Sind Sie, Herr Strasser, über Ihre 36 Jahre jüngere Mitautorin auf Prominente aufmerksam geworden, von denen Sie vorher vielleicht noch nie etwas gehört hatten?

Strasser: In der Tat, wir sind zwei Generationen voneinander entfernt. Nicht zuletzt deshalb hat mich auch meine Mitautorin mit Fragen und Neugier an so manche Prominenz in der Influencer-Szene herangeführt. Das hat bei den Kardashians begonnen und endet bestimmt nicht bei Charli D’Amelio und Pamela Reif. Diesen Erkenntnisbogen von der traditionellen Prominenz bis zu den Influencern zu meistern, hat uns zu vielen Diskussionen und immer wieder neuen Fragen geführt. Am Ende schafften wir auch gemeinsame Antworten.

Glauben Sie nach allem, was Sie für Ihr Buch herausgefunden haben, dass das Prominentsein schön ist?

Duckwitz: Schön ist die soziale Zustimmung, nach der wir als Menschen alle streben. Mit den Social-Media-Plattformen kommt hinzu, dass diese Zustimmung ziemlich schnell, fast in Echtzeit erfahren wird, und dass sie sich sichtbar für alle quantifiziert. Dieses „soziale Kapital“, von dem Pierre Bourdieu sprach, wird in der Influencer-Ökonomie in monetäres Kapital umgewandelt, was sich für viele schön und erstrebenswert anfühlt.

Welche Schattenseiten sehen Sie?

Duckwitz: Prominente haben sich schon immer mit Menschen umgeben, die sie bewundern, auch um die Schattenseiten auszublenden. Vielen Influencern ist zunächst nicht bewusst, dass sie nicht nur Fans und Follower anziehen, sondern auch Hater oder Stalker. Das fühlt sich dann nicht mehr schön an und wird für manche zur realen Bedrohung. Auch der wachsende soziale Druck, „always on“ zu sein, der durch die Algorithmen der Plattformen noch verstärkt wird, kann nach einer anfänglichen Like-Euphorie zunehmend belastend sein. Social-Media-Plattformen fordern zudem ständig neuen „Content“. Die Trennung von Privatem und Öffentlichem verschwimmt.

Wozu kann das Prominentsein ge- oder missbraucht werden?

Strasser: In der Influencer-Ökonomie haben wir es mit einer neuen Kultur der Selbstdarstellung zu tun. Der außenorientierte Mensch von heute ist auf Eindrucksmanagement angewiesen, weil er den Eindruck vermitteln will, dass er nicht nur gut, sondern auch besser sei. Und so wiederholen die Influencer ihre Werbebotschaft, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Botschaft in eine scheinbare Wahrhaftigkeit zu verwandeln. Das wäre in der unüberschaubaren Community oft nicht möglich, wenn nicht auch Promis als Projektionsflächen für ebenso vielfältige wie ambivalente Identifikationsbedürfnisse zur Verfügung stünden – vorangetrieben von medialer Aufmerksamkeit und vom Kommerz. Manche Promis, die für Zielgruppen eine ideale Identifikationsfigur darstellen, steigen sogar zu „modernen Heiligen“ auf.

Und was ist die Moral Ihrer Promi-Geschichte?

Strasser: Der „profane Gott“ ist Teil der modernen Suche nach Sinn, vor allem in Szenen, Netzwerken und Events, in denen Promis zugegen sind. Die Interaktion zwischen den Promi-Kandidaten und -Kandidatinnen, den Medien und dem Publikum führt zur Prominenzierung. Über die neue Währung Aufmerksamkeit gewährt die Prominenz den Menschen an ihrer Seite auch Aufstiegshilfe und den Medien ein Geschäftsmodell, das ihr Überleben sichert. Verändert haben sich also die Mittel menschlicher Handlungen, aber nicht ihre Ziele. Die Leistungsgesellschaft schafft sich nicht ab; sie wird nur eine andere, eine narzisstische Erfolgsgesellschaft. Was bei Sigmund Freud als psychische Störung galt, nimmt heute gesellschaftliche Idealzüge an.

Das Buch „Promis im Wandel: Von den Celebritys zu den Influencern“ ist erschienen in der Reihe KDP/Edition Soziologie heute, hat 176 Seiten und ist zu einem Preis von 9,95 Euro erhältlich.