„Vieles habe ich selbst erlebt“

In ihrem Roman beschreibt Ingeborg Drefke das Schicksal eines Mädchens aus Pommern, das in Neviges strandet.

Foto: Ulrich Bangert

Neviges. Seit zwei Jahren sind Flüchtlinge ein großes Thema, bereits vor mehr als 70 Jahren mussten Deutschland und Neviges mit Flüchtlingen klar kommen. Sie flohen vor der anrückenden Roten Armee oder wurden aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertrieben. Ingeborg Drefke hat das Schicksal eines Flüchtlingsmädchens in ihrem Roman „Endstation Neviges“ verarbeitet.

Im Winter 1945 entschließt sich Gutsbesitzer Friedrich Brieske in der pommerischen Kreisstadt Dramburg, seine Frau Lotte mit der der achtjährigen Hanna und ihren beiden jüngeren Brüder nach Westen zu einem Vetter nach Neviges zu schicken. Durch die Strapazen, Kälte und Hunger starben die beiden Jungen auf dem Treck, die Mutter musste die Kinderleichen in einer Scheune und in einem Wald ohne Beerdigung zurücklassen.

In Neviges angekommen, wollten sie zu dem Verwandten an der Elberfelder Straße 64. Das Gebäude stand nicht mehr, es wurde durch eine Luftmine zerstört. Im Rathaus wurde entschieden, Mutter und Tochter in der benachbarten Villa in der Nummer 66 einzuquartieren, ein Ehepaar Winkelmann nahm sich der Flüchtlinge an. Die geflohene Mutter konnte die Ereignisse der vergangenen Monate nicht verkraften, sie erkrankte seelisch und körperlich und starb ausgerechnet am Heiligen Abend 1945.

Die Winkelmanns, deren Söhne gefallen waren, kümmerten sich um die Entwicklung des Flüchtlingskindes, deren Mitschüler es spüren ließen, dass es eine Fremde war. Nach der Schule machte Hanna in einer Nevigeser Gießerei eine kaufmännische Ausbildung, verliebte sich in den gestandenen Bauern Heinrich Brinkmann vom Dönberg, der sich in der Ehe als übler Tyrann und Egoist erwies.

Schließlich fand Hanna doch noch ihr Glück in der Villa an der Elberfelder Straße. „Damals hatte diese Villa ein großes Tor zur Elberfelder Straße“, erinnert sich Drefke, die als Ingeborg Langenkamp in dem Haus aufgewachsen ist. Ihr Vater war Straßenbahnschaffner, das Depot der Bergischen Kleinbahn war direkt um die Ecke. Die 81-Jährige kann sich noch gut daran erinnern, wie es war, als nebenan die Luftmine einschlug. „Ein fürchterliches Geräusch, wir saßen im Keller, weil wir es bis zum Bunker an der Wilhelmstraße nicht mehr geschafft hätten.“

Nachdem das Haus verkauft wurde, ließ der neue Besitzer die Mauer an der Elberfelder Straße schließen, die Zufahrt erfolgt heute über die Hölzerstraße. Für den Buchtitel hatte sie einen Maler gebeten, das Anwesen im Zustand ihrer Kindheit darzustellen. „Die einen nannten das Haus Villa Brachmann, anderes sprachen von der Villa Vohwinkel. So bin auf die Idee gekommen, beide Namen zusammenzuführen, weshalb das Besitzer-Ehepaar in meinem Roman ‘Winkelmann´ heißt“, so die gebürtige Nevigeserin, die es beruflich nach Kettwig verschlagen hat, wo sie heute lebt.

„Vieles in dem Buch habe ich selbst erlebt, wie die den Hunger, die schwierige Beschaffung von Lebensmitteln oder den Unterricht in den kalten Schulräumen, wo die Kinder angehalten wurden, Briketts mit zubringen.“ Sie hatte wie die Protagonistin in dem Roman eine kaufmännische Ausbildung in einer Nevigeser Gießerei gemacht. „Allerdings gibt es keinen Heinrich Brinkmann und keinen Kastanienhof auf Dönberg, das habe ich sorgfältig recherchiert.“