Recherchen des Viersener Vereins zur Förderung der Erinnerungskultur Vom Westfeldzug zum Stalinterror – eine Spurensuche in Dülken und Moskau
Viersen-Dülken · Eine spannende Geschichte hat der Verein „Förderung der Erinnerungskultur – Viersen 1933 - 45“ recherchiert: Sie handelt von Helmut Schnorr und einem Leutnant, der 1939 in Dülken einquartiert war, später an der V2-Rakete mitarbeitete und 1951 in der UdSSR hingerichtet wurde.
Helmut Schnorr war bei Kriegsende erst zwölf Jahre alt. Folglich sind seine Erinnerungen die eines Kindes, geprägt von Uniformen und Freizeitangeboten der Hitlerjugend. Als in Vorbereitung des Westfeldzuges ein Leutnant aus Ostdeutschland 1939/40 im elterlichen Haus für Monate einquartiert wird, ist er beeindruckt. Bei dem Einquartierten handelt es sich um Helmut Sonnenschein, einem Mathematiker und Spezialisten für Ballistik. Familie Schnorr und er freunden sich an. Mit dem Überfall des Deutschen Reichs auf die westlichen Nachbarländer im Mai 1940 verlieren sich die Spuren. Auch Recherchen in den 1950-er Jahren bleiben erfolglos.
1999 stöbert der inzwischen zum Rentner gereifte Helmut Schnorr im Kölner Gürzenich auf einer Postkartenbörse nach Material für seine umfangreiche Postkartensammlung. Eine Karte mit dem Motiv der Narrenmühle erscheint zunächst nicht sonderlich interessant. Erst als Schnorr sie umdreht, entdecken seine Frau und er die Handschrift seines Vaters nebst Grüßen von Sonnenschein, adressiert an Sonnenscheins Frau, datiert vom 5. Dezember 1939. Wie kann es sein, dass ihm unter zehntausenden Postkarten ausgerechnet diese in die Hände fällt?
Schnorr stellt daraufhin erneute Nachforschungen an: Hat Sonnenschein den Krieg überlebt? Wie kommt die Postkarte nach Köln? Die Recherchen bleiben erneut ohne weitere Erkenntnisse, was Schnorr auch heute noch bedauert.
Nachdem ein Zeitzeugen-Video gedreht ist, lässt diese rätselhafte Geschichte André Sole-Bergers nicht los. Er begibt sich nun seinerseits auf Spurensuche und wird fündig: Sonnenschein – Jahrgang 1906 – arbeitete ab 1931 als Assistent am Mathematischen Institut der Uni Leipzig. 1936 verlor er diese Stelle, weil er in seiner Doktorarbeit seinen jüdischen Lehrern dankte und die würdige Beerdigung eines jüdischen Professors organisierte. Er arbeitete dann als Regierungsbaurat beim Heereswaffenamt. Dort war er an geheimen Waffenproduktionen beteiligt. Nach dreijährigem Militärdienst als Batteriekommandeur übernahm er im Jahr 1944 in Pommern eine technische Einheit zur Erprobung der „Wunderwaffe“ V2.
Nach Kriegsende wurde er Abteilungsleiter im sowjetischen Luftfahrtministerium in Berlin-Karlshorst, wo Entwicklungen aus deutschen Rüstungsfirmen fortgesetzt wurden. Nach Auflösung des Büros war Sonnenschein Ende 1948 als Ingenieur in der Filmfabrik Wolfen tätig.
1950: Familie Sonnenschein wohnte in Naumburg an der Saale/DDR und erwartete ihr zweites Kind. Ein e haltlose Anschuldigung eines Ex-Kollegen wurde zum Verhängnis. Vorwurf: Sonnenschein arbeite für westliche Geheimdienste. Am 16. November 1950 klingelte es an der Haustür. Ein angeblicher Mitarbeiter des Wohnungsamtes kündigte Einquartierungen an und bat Sonnenschein, ihn zum Rathaus zu begleiten. Zusammen bestiegen sie ein Auto.
Es war das letzte Mal, dass die schwangere Hildegard Sonnenschein und ihre beiden Söhne Ehemann und Vater sahen. Er verschwand spurlos auf Nimmer-Wiedersehen. Nachfragen wurden rüde abgeblockt.
Erst nach der politischen Wende unter Gorbatschow und dem Ende der DDR nahm die Familie die Recherchen wieder auf. 1990 gestand die Botschaft der UdSSR, dass Sonnenschein am 26. April 1951 von einem sowjetischen Militärgericht zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Die Hinrichtung fand am 4. Juli 1951 im Moskauer Gefängnis Butyrka statt. 1994 erfolgte die vollständige Rehabilitation angesichts der frei erfundenen Spionagevorwürfe.
Inspiriert von der Initiative „Stolpersteine“ für Opfer des Nationalsozialismus existiert inzwischen ein Projekt „Die letzte Adresse“, das sich dem Gedenken an Opfer der stalinistischen Willkürherrschaft widmet. Die „Letzte Adresse“ kommt als Metalltafel an die Hauswand. So geschehen am 17. Juli 2020 am Haus, das heute der Sohn Henk Sonnenschein bewohnt.
Inzwischen konnte Sole-Bergers den Kontakt herstellen zwischen Helmut Schnorr und dem jüngsten Sohn Helmut Sonnenscheins gleichen Namens. Auch wenn das Familiendrama nicht ungeschehen gemacht werden kann, so ist es Schnorr und Sonnenschein sehr wichtig, die Geschichte des Wissenschaftlers weiter aufgeklärt zu sehen.
Das Zeitzeugeninterview ist zu sehen unter „www.virtuelle-gedenkstaette-viersen.de“.