Porträt Warum eine Frau aus St. Tönis im Auto lebt
Häme und Beleidigungen muss sich eine Frau aus St. Tönis anhören. Der Grund: Sie lebt in einem Auto. Ohne diese Abschirmung vor Begegnungen würde sie unter Krampfanfällen oder Luftnot leiden, erklärt sie unserer Redakteurin.
Tönisvorst/Viersen. „Diese Zigeunerlady, die ist doch nicht normal.“ Häme und Beleidigungen musste sich Kirsten W. (Name von der Redaktion geändert) bereits anhören, seit sie sich vor gut einem Monat dazu entschlossen hat, in ihr Auto zu ziehen. Zwei Quadratmeter zwischen Windschutzscheibe und Kofferraum. Ihr Übergangszuhause. Ihre Welt hinter Glas.
Kirsten W.
Ohne diese Abschirmung vor Begegnungen mit Menschen, Gerüchen und Chemikalien würde sie von heftigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geplagt, sagt sie. Die 37-Jährige, eine gelernte Arzthelferin aus St. Tönis, leidet aller Wahrscheinlichkeit nach an einer Duft- und Chemikalien-Unverträglichkeit. Zu hohe Dosen davon „durch Deodorants, Parfüms, Haarspray, Waschlotionen, Waschpulver, Pflegemittel und Reiniger“ setzen ihr massiv zu. Sie bekommt Krampfanfälle, der Hals schwillt an, Luftnot, Übelkeit, Schwindel.
Vor zwei, drei Jahren hätten die Beschwerden angefangen. „Das Riechen verstärkte sich. Ich litt unter Kopfschmerz und Übelkeit, dachte oft, ich hätte etwas Falsches gegessen.“ Lebensmittelunverträglichkeiten traten auf.
W. weist auf einen Artikel des Umweltbundesamtes hin. Auf der Homepage wird die „Multiple Chemikaliensensibilität“ (MCS) als „ein Beschwerdekomplex bezeichnet, bei dem Allgemeinsymptome wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Atemprobleme, Symptome des Magen-Darm-Traktes und weitere Störungen verschiedener Organsysteme auftreten können“.
Es sei auch nach Studien weiterhin unklar, „ob es sich bei MCS um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Deutlich ist, dass psychosomatische Belastungen häufig gemeinsam mit den MCS-Beschwerden auftreten.“ Allerdings sei ungewiss, ob im Falle einer solchen Komorbidität, die MCS-Symptome die Ursache oder die Folge psychosomatischer Beschwerden seien.
W. arbeitete im Einzelhandel, als die Beschwerden gehäuft auftraten. „Ich kam mit mehreren hundert Personen am Tag in Kontakt, mit Chemikalien, Reinigungsmitteln.“ Etliche Ärzte hat sie seitdem aufgesucht, erzählt W.: ihren Hausarzt, fünf HNO-Ärzte, vier Lungenfachärzte und mehrere Allergologen.
Sie sollten der Ursache auf den Grund gehen, warum der Darm aus dem Gleichgewicht und das Immunsystem geschwächt waren, woher die Beschwerden rühren. „Ganz extrem reagiere ich zum Beispiel auf Waschmittelpulver.“
Kirsten W. über ihr Leben im Auto
Anfang April ist sie den Weg aus vier Wänden in die freiwillig gewählte Isolation gegangen und lebt vorübergehend im Auto. „Es ist wie eine Kur für den Körper“, sagt W.. Wie eine Entgiftung. Phasenweise gehe es ihr gut. Sie fühle sich „geradezu topfit“, wenn es ihr über einen längeren Zeitraum gelingt, mit Chemikalien nicht in Berührung zu kommen.
W. hält sich viel in der Natur auf, an der frischen Luft, schläft in ihrem Wagen. „Jemand hat mir angeboten, mein Auto nachts auf seinem Hof abzustellen“, sagt sie und freut sich über jede Hilfe.
Gesellschaftlich fühlt sie sich trotzdem isoliert. Viele reagierten mit Unverständnis und Hilflosigkeit. Manche behaupteten, sie leide unter einem Burn out. Das Telefon ist ihre Chance, mit anderen länger zu sprechen. Auch für ihre Familie und Freunde sei es belastend, mit dieser Situation umzugehen.
„Einkaufen gehe ich kurz vor Ladenschluss, damit ich auf möglichst wenige Menschen treffe.“ Zu lange darf sie sich in einem Supermarkt auch nicht aufhalten, „weil die Düfte in meine Kleidung ziehen“.
Ein Allergologe hat W. an die Universitätsklinik Aachen verwiesen. Dort forsche man über diese Unverträglichkeit. Die Kontaktaufnahme erfolgte über das Sekretariat des Fachbereichs Arbeitsmedizin. „Eine Antwort von dort steht noch aus“, sagt W. Sie hat sich an die WZ gewandt, damit viele von diesem Krankheitsbild erfahren. „97 Prozent der Düfte bestehen aus Chemikalien“, hat sie gelesen. Naturprodukte würden immer häufiger durch Chemikalien ersetzt.
Mit Schildern im Auto weist W. Passanten darauf hin, dass sie eine Duftunverträglichkeit hat und fordert sie auf: „Bitte nehmen Sie weniger Duft. Menschen wie ich wollen auch leben.“ W. sieht Politik und Hersteller in der Pflicht, will aber auch die Verbraucher sensibilisieren.
Das tut seit Jahren auch der Deutschen Allergie- und Asthmabund e.V in Mönchengladbach und verweist auch auf Zahlen des Umweltbundesamtes (UBA): Demnach „reagieren über eine Million Menschen in Deutschland“ auf Duftstoffe und Duftstoff-Mischungen allergisch.
W. rät Verbrauchern dazu, viel häufiger und genauer auf die Inhaltsstoffe von Produkten zu achten. Etwa auf Linalool. Als ein Bestandteil ätherischer Öle wie auch als Reinstoff werde es, so Wikipedia, als Geruchs- und Geschmacksstoff verwendet. „Linalool gehört zu den Prohaptenen, Substanzen, deren Oxidationsprodukte an der Luft (Linalooloxid) bzw. Reaktionsprodukte auf der Haut allergieauslösend sind. In einer europaweiten Studie erwiesen sich 1,3 Prozent der Patienten als sensibel auf oxidiertes Linalool.“ Ein Blick auf die Inhaltsstoffe von Deostiften usw. lohnt. Oft liest man Warnhinweise wie diese: „Nicht auf verletzter Haut anwenden. Bei Auftreten von Hautirritationen nicht weiter verwenden.“