„Man wird wahnsinnig“ Vom Leid der Angehörigen von Vermissten
Düsseldorf · Menschen verschwinden tagtäglich, ohne Erklärung, ohne Brief, ohne ein Zeichen. Freunde und Angehörige sind einem Sturm der Gefühle ausgesetzt. Besonders schlimm trifft es sie, wenn der Verdacht auf ein Verbrechen besteht.
Am Nachmittag des 19. Mai dieses Jahres wacht Reinhard Schetters auf dem heimischen Bett auf. Seine Frau, die sich ebenfalls zum Schlafen neben ihn gelegt hatte, ist nicht mehr da. Auf einem Zettel hat sie die Botschaft hinterlassen: „Bin auf dem Friedhof.“ Schetters denkt sich nichts dabei, besucht seine Frau Petra doch häufiger alleine das Grab ihrer Eltern und Schwestern. „Am Spätnachmittag bin ich nervös geworden, es war doch längst Zeit für die Rückkehr vom Friedhof“, erzählt der Rentner aus Essen. Hier beginnt die Hölle, durch die Schetters seit diesem Tag geht.
Nach Angaben des Bundeskriminalamtes werden in Deutschland etwa 200 bis 300 Fahndungen täglich neu erfasst und auch gelöscht. Die Hälfte davon klären sich in der ersten Woche auf. Innerhalb von vier Wochen liegt diese Quote bei 80 Prozent. Länger als ein Jahr werden nur drei Prozent vermisst. Der Publizist Peter Jamin, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten um Angehörige von Vermissten kümmert, betont in den Gesprächen mit ihnen, dass nur hinter einem Prozent der Fälle Verbrechen stehen.
Jamin rechnet vor: Bei 300 Registrierungen täglich sind das im Jahr über 100 000 Vermisstenfälle. Wenn jeder Vermisste nur fünf ihm nahestehende Menschen habe, seien das ganz grob schon rund eine halbe Million Betroffene, darunter auch der 71-jährige Schetters. Der geht an jenem Tag im Mai den Weg ab, den seine Frau genommen haben muss, fährt zu Freunden der geselligen 58-Jährigen. Nichts, nicht der kleinste Hinweis auf ihren Verbleib. Als er am nächsten Morgen zur Polizei geht, traut er seinen Ohren nicht. „Zerbrechen Sie sich doch nicht den Kopf, sie wird schon wieder auftauchen“, rät ihm der Beamte - so schildert Schetters es. Eine Vermisstenanzeige nimmt er nicht auf.
Nach diesem Schock wendet sich der ehemalige Techniker zwei Tage später ans Polizeipräsidium Essen. Dort erhält er Hilfe: Unter anderem wird ein Kanal nahe dem Friedhof von Tauchern und mit Sonarbooten abgesucht - vergeblich. Nur so viel ist klar: Die Frau kam am Grab an, verließ den Friedhof, danach verliert sich ihre Spur.
Beim Verband ANUAS, einer Hilfsorganisation für Angehörige von Mord-/Tötungs-/Suizid- und Vermisstenfällen, ist das Thema virulent. „Immer mehr Angehörige wenden sich in Vermisstenfällen an uns“, sagt Verbandschefin Marion Waade. In vielen dieser Fälle kristallisierten sich später Tötungsdelikte oder Suizide als Grund heraus. „Die Angehörigen beschweren sich oft darüber, dass die Polizei sich nicht genügend um ihren Fall kümmert, auf fehlende Kapazitäten verweist, sie nicht ernst nimmt und zum Abwarten rät“, erzählt Waade. Nur bei Kindern, Senioren oder Menschen, die auf Medikamente angewiesen sind, zeige sie mehr Engagement.
Das Polizeipräsidium Mannheim verweist darauf, dass ein Vermisstenfall nur dann vorliegt, wenn ein Mensch sein Umfeld verlassen hat, sein Aufenthaltsort unbekannt ist und eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden kann. Alles drei müsse zusammenkommen, da jeder seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen könne. Bei Hinweisen auf eine Gefährdung ergreife die Polizei alle erforderlichen Maßnahmen, um diese abzuwenden. Minderjährige gelten per se als vermisst, wenn diese den gewohnten Lebensbereich verlassen haben und ihr Aufenthaltsort unbekannt ist.
Schetters denkt über das Leben mit Petra nach. Streit habe es nicht gegeben. Daran könne es nicht gelegen haben. Er sagt: „Vermuten tut man alles, das fängt bei Entführung an über Suizid und hört bei Mord auf. Da wird man wahnsinnig.“ Aber er gibt nicht auf. Er hat in der Wohnung Petras Sachen nicht angerührt. „Nicht einen Hut habe ich weggepackt. Ich warte noch immer darauf, dass meine große Liebe nach Hause kommt.“