Wer vor 100 Jahren in Mettmann in die „Elektrische“ stieg, hatte oft tierische Gesellschaft Mit Schaf und Ziege in die Straßenbahn

Mettmann · Mit der ersten elektrischen Straßenbahn begann in Mettmann vor mehr als 100 Jahren eine ganz neue Zeitrechnung. Die Einhaltung von Fahrplänen war nicht wichtig. Und befördert wurden auch Schafe und Ziegen.

Die Straßenbahn hielt unter anderem am alten Mettmanner Bahnhof.

Foto: Stadtarchiv Mettmann

Es rumpelte, es ratterte und mittendrin stand eine Ziege. Oder man stolperte über einen Kartoffelsack. Mit Glück fiel man weich auf ein Schaf. Und wenn es ganz schlecht lief, krachte man bei einer der hoffentlich seltenen Vollbremsungen auf eine Milchkanne. Wer also vor einem Jahrhundert in die „Elektrische“ nach Vohwinkel stieg, hatte mit dem Fahrschein das Abenteuer gleich mit gebucht.

Denn was einen dort erwartete, konnte man nie wissen. Ein entspannter Plausch auf Ledersitzen? Wohl kaum. Stattdessen stiegen alle ein, die keine Lust zum Laufen hatten. Und dazu gehörte offenbar auch allerlei Getier. Das muss man sich mal vorstellen: Da steht ein bockiges Schaf an der Haltestelle und will einfach nicht einsteigen.

Während Herr und Gescherr draußen ein wildes Gezerre veranstalten, lehnt man sich drinnen entspannt zurück. Keiner guckt nervös auf die Uhr, weil die Bahn schon wieder Verspätung hat. Keiner ruft sofort beim Betriebshof in der Bismarckstraße an, weil es nicht auf die Sekunde genau vorangeht. Die Beruhigungspillen kann man sich sparen, weil man auf dem langen Weg von Mettmann nach Vohwinkel so wunderbar entspannen kann.

Und keiner muss mit dem Esel an der Leine den Burnout kurieren, weil man das Achtsamkeitstraining mit dem Fahrschein mitgebucht hat. Da wird einem direkt warm ums Herz und man fragt sich, warum man eigentlich die Regiobahn braucht, wo doch alles schon mal so gut lief.

Aber Spaß beiseite: Mit der ersten „Elektrischen“ begann vor mehr als 100 Jahren eine ganz neue Zeitrechnung. Schaut man in die Annalen, so scheint es sich dabei um eine ganz clevere Geschichte gehandelt zu haben. Denn eigentlich wollten die Rheinische-Westfälischen-Elektrizitätswerke, RWE, dem Kreis Mettmann damals nur einen Stromlieferungsvertrag andrehen. Dass man dazu gleich eine ganze Straßenbahn bekommt, darf getrost als Geniestreich der Stadtverwaltung verstanden werden. Sowas kriegen die dort nicht hin? Ach was! Die „Elektrische“ war der beste Beweis dafür, dass man manche Dinge einfach nur gut verhandeln oder eben hartnäckig aussitzen muss. Bürgermeister Robert Conradi dürfte damals jedenfalls einen Grund zum Feiern gehabt haben und bestimmt gehörte er auch zu den ersten Fahrgästen, als die Bahn am 19. Juli 1909 zu ihrer Jungfernfahrt aufbrach. Danach kam die ganze Sache ins Rollen: Ein Jahr später wurde auch die Strecke nach Düsseldorf in Betrieb genommen. Nach nur zehn Monaten Bauzeit kam im Jahre 1928 die Straßenbahnlinie von Mettmann nach Wülfrath hinzu. Der Einsatz war groß. Denn dafür mussten in beiden Städten mehrere Häuser abgerissen werden.

Bis dahin war man meist auf Schusters Rappen unterwegs, um in die umliegenden Städte zu gelangen. Gelegentlich wurde man auch von einem Pferdefuhrwerk mitgenommen und konnte die Füße schonen. In der Chronik lässt sich nachlesen, dass die Straßenbahnschaffner ein Völkchen für sich gewesen sein sollen.

An einigen Haltestellen standen Gestelle für Milchkannen

Mit vielen Fahrgästen per Du, erfüllten sie geduldig alle Kundenwünsche. Und so war es auch nicht selten, dass sich die Türen der Bahn auch jenseits der offiziellen Haltestellen geöffnet haben, um jemanden aussteigen zu lassen. Und wie schon gesagt: Niemand störte sich daran, dass neben Kartoffelsäcken und Obst auch Schafe und Ziegen befördert wurden. An einigen Haltestellen standen große Holzgestelle, auf die Bauern ihre vollen Milchkannen stellen konnten. Sie wurden dort von den Fahrzeugen der Milchverwertung abgeholt. Für eine Milchkanne musste eine Wochenkarte gelöst werden, für jede weitere Kanne eine halbe Wochenkarte. Zur Personalgeschichte erinnert sich Kurt Weber: „Um dort arbeiten zu können, musste man gute Fürsprecher haben – ganz gleich, ob es um eine Beschäftigung im Fahrdienst oder in der Werkstatt ging“.

Über Jahrzehnte hinweg ratterten die Mettmanner Straßenbahnen von 6 Uhr bis 22 Uhr mit drei Linien auf 35 Kilometern nach Düsseldorf, Wülfrath und Wuppertal – bis 1952 auch die letzte Linie W auf Busbetrieb umgestellt wurde. Schon 1937 hatte die Rheinbahn den Bahnbetrieb übernommen.

Das RWE hatte kein Interesse mehr an der Unterhaltung des Straßenbahnnetzes, nachdem Industrie und Haushalte zu den größten Stromverbrauchern geworden waren. Der Abschied von der letzten Straßenbahn wurde zu einem Volksfest. So mancher Schluck wurde damals auf das Wohl der guten, alten „Elektrischen“ getrunken.