Brauchen wir einen Senioren-TÜV?
Nachdem ein 85-Jähriger eine Postbotin überfahren hat, diskutiert ganz Gladbach über eine Überprüfung der Fahrtüchtigkeit.
Rote Kerzen, Blumen, ein weißes Fahrrad: So trauern die Gladbacher an der Tankstelle Neusser Straße um die tote Postbotin, die am Samstag von einem Auto überrollt wurde, das ein 85-Jähriger steuerte. Es bleiben Fragen: Wurde der Senior durch das Hupen einer Cabrio-Fahrerin genötigt, schneller auf das Tankstellengelände zu fahren? War er dadurch abgelenkt? Aus welcher Richtung kam die Postbotin? Hat sie den Rad- oder Gehweg benutzt? „Wir suchen dringend Zeugen. Sie sollen sich unter Tel. 02161/290 melden“, sagt Polizeisprecher Jürgen Lützen.
Dieser schlimme Vorfall lenkt den Blick auf eine Diskussion, die seit Jahren teilweise heftig geführt wird: Sind ältere Menschen am Steuer eines Autos eine Hochrisikogruppe? Muss es für sie Einschränkungen geben? In einigen europäischen Ländern sind medizinische Untersuchungen für Ältere Pflicht. In Italien muss jeder Autofahrer über 50 Jahre seinen Führerschein alle fünf Jahre erneuern lassen, ab 70 alle drei Jahre, ab 80 alle zwei. Ein medizinischer Check ist immer notwendig. Großbritannien verpflichtet die über 70-Jährigen, alle drei Jahre ihren Führerschein verlängern zu lassen.
Anfang des Jahres hat das deutsche Verkehrsministerium verpflichtende Eignungstests für ältere Autofahrer aber kategorisch abgelehnt. Mit dem Ministerium stimmt Dr. Thomas Jaeger, Chefarzt der Geriatrie am Elisabeth-Krankenhaus, weitgehend überein. „Man kann Senioren am Steuer nicht unter einen Generalverdacht stellen. Ich halte auch gar nichts von Zwangsmaßnahmen“, sagt der Neurologe, Psychiater und Altersmediziner. Er macht auf eine Entwicklung aufmerksam, die vor diesem Hintergrund besonders interessant ist: Haben derzeit von den über 80-Jährigen nur rund 20 Prozent einen Führerschein, steigt deren Zahl in zehn Jahren auf rund 70 Prozent an. „Die älteren Menschen vor 20 Jahren sind aber nicht mit denen heute zu vergleichen. Das wird in wieder 20 Jahren noch gravierender sein: Die Älteren wollen mobil und selbstständig sein. Das ist für ihr Selbstwertgefühlt wichtig“, sagt er. Er appelliert an die Senioren, selbstkritisch zu sein und an ihre Angehörigen und Ärzte, auf Alarmsignale zu reagieren, wenn die Fahrtüchtigkeit eingeschränkt ist.
Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Sozial-Holding und Experte in der Altenpflege, sagt klipp und klar: „Im Alter nehmen Seh- und Hörfähigkeit in der Regel ab, Reaktionszeit und motorische Fähigkeiten verschlechtern sich. Warum soll man nicht die Fahrtüchtigkeit regelmäßig kontrollieren?“ Er sagt auch: „Wir müssen aber dafür sorgen, dass Dienstleistungen für Senioren besser werden, wenn sie nicht mehr mobil sind.“
Für die Polizei gibt es keine statistischen Daten, die darauf hindeuten, dass Senioren besonders viele Unfälle verursachen. „Gesundheitliche Mankos gleichen Senioren aus, indem sie meist vorsichtiger, langsamer, umsichtiger und weniger fahren. Sie verfügen auch oft über eine lange Fahrpraxis“, sagt Achim Hendrix, als Leiter der Verkehrsinspektion I zuständig für Verkehrssicherheit. Im ersten Halbjahr 2016 gab es 4861 Verkehrsunfälle in Gladbach mit 522 Verletzten, darunter 67 Senioren. Aber Fakt ist auch: Wenn Senioren über 75 Jahre in Unfälle verwickelt sind, haben sie diese zu rund 75 Prozent auch verursacht.