Eine boomende Stadt geht an die Wahlurne
Mönchengladbach, noch zu Beginn dieses Jahrtausends ein Inbegriff des industriellen Niedergangs, feiert ein großes Comeback.
Es gibt diesen landläufigen Ausspruch über die politischen Verhältnisse in Mönchengladbach: „Da kannste doch ’nen Stock hinstellen, wenn der schwarz angemalt ist, gewinnt der den Wahlkreis.“ Das ist einerseits despektierlich nicht nur gegenüber den Kandidaten, sondern auch gegenüber den Wählern. Letztere machen sich doch sehr genau Gedanken über ihr Kreuz am Wahltag und können durchaus menschliche Kompetenz vom tumben Gegenstand unterscheiden.
Schaut man sich die Wahlergebnisse in Mönchengladbach seit der ersten Bundestagswahl 1949 an, dann sieht man immerhin, woher die Weisheit stammt: Fast immer gewann der Kandidat der CDU den Wahlkreis, der zunächst noch „Rheydt — M. Gladbach — Viersen“ umfasste. Fast immer waren es Männer, die das Direktmandat im Bonner oder Berliner Parlament holten. Und nur einmal gab es eine Ausnahme von beidem: 1998 gewann die Sozialdemokratin Hildegard Wester und profitierte dabei sicher von der bundesweiten Wechselstimmung. Seit 2002 allerdings heißt der Mönchengladbacher Inhaber des Direktmandats Günter Krings (CDU). Und es müsste nach derzeitigem Stand in den kommenden Wochen bis zum Wahltermin am 24. September wohl einen bundesweiten politischen Erdrutsch geben, wenn der Parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium nicht wieder den Wahlabend als Sieger in Mönchengladbach beenden dürfte.
Krings, die sozialdemokratische Konkurrenten Gülistan Yüksel oder wer auch immer sonst nach Berlin in den Bundestag einzieht — er oder sie (oder vielleicht auch wieder mehrere?) vertreten dort eine Stadt im Aufschwung. Die Stadt boomt, sie lockt viele neue und namhafte Unternehmen. Man investiert an allen Ecken und Enden. Aber was passiert mit dem JHQ, der größten Problemzone der Stadt in den kommenden Jahren? Das Areal gehört noch immer dem Bund, und dessen Immobilienanstalt tut sich schwer mit dem Komplex. Neubauten werden das Erscheinungsbild in den kommenden Jahren an anderen Stellen der Stadt entscheidend verändern. Mönchengladbach, noch zu Beginn dieses Jahrtausends ein Inbegriff des industriellen Niedergangs, feiert ein großes Comeback. In den Gewerbegebieten wird es langsam eng. Aber kommt das auch bei den 269 899 Menschen mit einer Gladbacher Wohnanschrift an? Dem Durchschnitt der Menschen geht es heute tatsächlich besser als noch bei der letzten Bundestagswahl 2013. Die jährliche Kaufkraft ist in diesem Zeitraum um fast 1000 Euro pro Einwohner gestiegen. Nie hatten so viele Menschen einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz wie im Moment. Der Mittelstand ist in der Stadt mit seinen Hidden Champions, den „versteckten Vorzeigefirmen“ besonders stark, wie der Verlag „Die Deutsche Wirtschaft“ ermittelt hat: 42 der wichtigsten Mittelständler Deutschlands sind in Mönchengladbach angesiedelt. Textil und Mode, für das Mönchengladbach immer stand, erleben eine Renaissance in Unternehmen und Hochschule, die bundesweit führend sind und viele Arbeitsplätze schaffen. Nicht umsonst entsteht derzeit die Textilakademie in direkter Nachbarschaft des Hochschul-Campus. Logistiker haben ebenfalls viele Jobs geschaffen, die in der Stadt lange Zeit gefehlt haben — für Menschen mit geringer Berufsqualifikation.
Aber diese wirtschaftlichen Erfolge sind auch mit Verpflichtungen verbunden: Noch immer haben 14.500 Menschen in der Stadt keine Arbeit und sind auf Jobsuche, viele von ihnen sind Langzeitarbeitslose, die Arbeitslosenquote ist weiter deutlich über 10 Prozent. Sie ist eine Spätfolge des Niedergangs der traditionellen Textilindustrie. Aber was machen die Logistiker, wenn die Autobahnen rund um Mönchengladbach nicht dreispurig ausgebaut werden? Im jüngsten Bundesverkehrswegeplan fallen die Ausbauten der Autobahnen 52 und 61 durchs Raster. Auf absehbare Zeit tut sich da nichts. Davon abgesehen fährt auch das größte Infrastrukturprojekt dieser Tage, der neue Rhein-Ruhr-Express RRX, an Mönchengladbach vorbei. Ein paar Randverbindungen bekommt die Stadt, mehr nicht. Was tut der Bund, damit Mönchengladbach da nicht aufs Abstellgleis gerät? Erstmal die Hauptbahnhöfe renovieren — es hat sehr lange gedauert, bis das Mönchengladbacher Foyer endlich dran war. Aber auf absehbare Zeit werden immer mehr Güter von den Seehäfen in den Niederlanden und Belgien nach Deutschland transportiert. Fahren sie über Schienen, die durch Mönchengladbach verlegt werden? Der Eiserne Rhein ist bei vielen Gladbachern ein jahrzehntealtes Schreckgespenst, das einfach nicht zu vertreiben ist.
Dabei wünscht sich die Stadt doch Neues: Digitalisierung, eCommerce, IT und Service — das sind die Bereiche, die die Wirtschaftsförderung verstärkt in den Fokus nimmt. Aber wie entsteht eine kreative, blühende Start-up-Szene, wenn der ins Stocken geratene Ausbau des Glasfaser-Netzes nicht schnell angekurbelt wird? Ein erster Schritt ist getan, bis Ende 2018 werden 97 Prozent der Haushalte der Stadt mit einer Geschwindigkeit von 30 Mbit pro Sekunde ans Internet angeschlossen sein. Stand heute ist das gut, es reicht, um Youtube-Videos ruckelfrei anzuschauen. Zuletzt kam der Förderbescheid aus Berlin über neun Millionen Euro (die Hälfte kommt vom Land), mit der bis Ende 2019 noch unterversorgte Flecken ans Glasfaser-Netz angeschlossen werden sollen. 1200 Haushalte betrifft das. Schnelles Internet ist kommunale Daseinsvorsorge, für Unternehmen wie für die Menschen. Ohne Berlin wird’s aber schwer. Mönchengladbach wächst und wächst. Die Stadt macht Platz für Neubürger, die in hochwertige Wohnungen ziehen sollen. Am Bunten Garten, am Maria Hilf, in der City-Ost, auf dem heutigen Reme-Gelände entstehen in den kommenden Jahren neue Wohngebiete. Das Interesse von Menschen aus anderen Städten ist groß, nach Mönchengladbach zu ziehen. Wo doch die Preise im Vergleich so günstig sind. Aber es gibt auch die andere Seite des Wohnungsmarktes: Für Menschen mit ganz wenig Geld wird es immer schwieriger, an guten Wohnraum zu kommen. Ende 2016 war der Bestand an Sozialwohnungen auf 7100 geschrumpft. Bis 2030, so die Prognose der Landesbank, sind es nur noch 5100 geförderte und damit mietpreisgebundene Wohnungen. Was kann der Bund für die Schlechtverdiener auf Wohnungssuche tun?
Fast 16 Prozent der Einwohner waren im vergangenen Jahr hoch verschuldet, Platz 387 von allen 402 Kommunen in Deutschland. Die Not ist bei vielen Menschen noch immer groß. Jedes dritte Kind wächst in einer Familie auf, die auf „Hartz IV“ angewiesen ist. Nie musste die Stadt so viel Geld in die Hilfen zur Erziehung investieren wie aktuell Und längst nicht alle Familien haben einen Platz in einem Kindergarten bekommen, obwohl sie einen Rechtsanspruch haben.
Ohne Zweifel — das boomende Mönchengladbach kann sich sehen lassen. Die Zeit, in der man mitleidige Blicke erntete, wenn man seine Heimatstadt beim Namen nannte, sind lange vorbei. Aber der oder die Politiker, die nach dem 24. September nach Berlin reisen, haben ein mit Aufgaben prall gefülltes Gepäck.