Lernen aus dem Fall Lügde NRW sammelt Ideen für den Kinderschutz
Düsseldorf · Ein breites Bündnis im Landtag will mehr tun gegen Missbrauch und hört Experten. Es wird deutlich: NRW hat noch Hausaufgaben nachzuholen.
Der Kampf gegen Kindesmissbrauch erfährt aktuell eine historisch breite Unterstützung. So auch am Montag im Landtag: Fünf Fachausschüsse kamen dort zusammen, um auf Antrag von CDU, SPD, Grünen und FDP mit Experten darüber zu beraten, wie NRW besser werden kann. Die eingeladenen Kinderschützer waren schonungslos ehrlich: Lügde sei kein Einzelfall, sagt Ursula Enders vom Kölner Verein „Zartbitter“, sie habe ähnliche in der Beratung gehabt. Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse seien womöglich von Missbrauch betroffen, verdeutlicht Kerstin Claus vom Betroffenenrat. Neben drückenden Schuhen brachten die Experten aber auch viele Ideen mit.
Mehr Beratung: Viele der Praktiker betonen eine Unterfinanzierung der Beratungsstellen. Dabei müsste das Angebot im Grunde ausgebaut werden. Auch der Landessportbund erklärt, bei Verdachtsfällen in Vereinen würden Trainer von den Fachstellen oftmals abgewiesen, weil es keine Kapazitäten mehr gebe. Insbesondere auf dem Land fehle eine flächendeckende Versorgung, zudem gebe es zu wenige Angebote für Männer und Jungen, für Behinderte, die besonders häufig Opfer würden, aber auch für Opfer, deren Missbrauch weit in der Vergangenheit liegt.
Mehr Vernetzung: Der Kinderschutzbund NRW plädiert dafür, den Netzwerkaufbau im Kinderschutz gesetzlich zu verankern und ihn durch eine landesweite Koordinierungsstelle zu begleiten. Andere Experten schlagen einen Missbrauchs- oder einen Kinderschutzbeauftragten vor. Die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz fordert NRW-Spezialteams für komplexe Missbrauchsfälle wie in Lügde, die Träger vor Ort unterstützen und entlasten können – ähnlich wie die Kontaktstelle „Zartbitter“ in Köln, die sie Kriseninterventionsteams nennt. Denn in schweren Missbrauchsfällen brauche auch das Umfeld des Opfers – etwa die komplette Schule – womöglich Hilfe.
Mehr Wissen: Die Experten sind weitgehend einig: In Ausbildung und Studium der Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, kommt der Kinderschutz zu kurz. Maud Zitelmann vom Deutschen Kinderverein fordert gar ein „Pflichtfach Kinderschutz“ für alle betroffenen Berufsgruppen: „Wir haben es bisher mit fortgebildeten Laien im Kinderschutz zu tun“, verdeutlicht sie. Enders geht noch weiter: „Die Ausbildung an den Hochschulen ist hundsmiserabel.“ Dabei ist laut Kerstin Claus vom Betroffenenrat beim Bundesbeauftragten für Missbrauch entscheidend, über Täterstrategien Wissen zu vermitteln, um zu verstehen, weshalb er „gesellschaftlich unsichtbar“ bleibt.
Mehr Forschung: Mehrere Experten fordern eine Enquêtekommission oder ein interdisziplinäres Expertenteam, um die Vorfälle von Lügde zu untersuchen. Wichtig sei die Einbindung nicht nur von Wissenschaftlern, sondern Praktikern.
Mehr Aufsicht: In diesem Punkt gab es Einigkeit: Die Jugendämter brauchen eine starke Fachaufsicht. In der Stellungnahme des Pflege- und Adoptivfamilien NRW e.V. heißt es: „Dem etablierten System mangelt es an Kontrolle, Aufsicht und Sanktionen sowie oft die Bereitschaft zur Weiterbildung und Umsetzung aktueller Forschungsergebnisse.“ Auch müsse es festgelegte Verfahren geben, wie etwa bei einer unterschiedlichen Gefährdungsbewertung für ein Kind durch zwei Behörden – wie im Fall Lügde – zu verfahren sei.
Mehr Kinderrechte im Strafverfahren: „Da ist noch Luft nach oben“, sagt die NRW-Opferschutzbeauftragte Elisabeth Auchter-Mainz. Technische und personelle Voraussetzungen für die Videovernehmung von jungen Missbrauchsopfern etwa seien auszubauen. Andere Kinderschützer fordern etwa eine Fortbildungspflicht für Richter, den Aufbau von Kompetenzzentren in der Justiz und unbürokratische Psychosoziale Prozessbegleitung für die Opfer.