Interview Verfassungsschutz-Chef Haldenwang erwartet „gewalttätige Krawalle“ bei Räumung von Lützerath

Interview | Wuppertal · Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang spricht im Interview über die kommende Räumung von Lützerath in NRW und seine Einschätzung zur Gruppe „Letzte Generation“. Außerdem geht es um Reichsbürger und die AfD.

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesverfassungsschutzes, in Wuppertal im Gespräch.

Foto: Fries, Stefan (fri)

Unruhige Tage erlebt der deutsche Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Die Themen sind vielfältig, Haldenwang, 62, der aus Wuppertal kommt, steht in der Kritik, weil er die sogenannten „Klimakleber“ angeblich verteidigt habe, wie ihm einige konservative Politiker vorwerfen. Dann ist da die Gefahr aus China: lange unterschätzt, aber im Verfassungsschutz ein Dauer-Thema. Und die Reichsbürger und deren aufgeflogenes Netzwerk, über das wir am Ende dieses Gesprächs in der Redaktion in Wuppertal reden. Welche Gefahr geht wirklich von denen aus? Aber der Reihe nach.

Herr Haldenwang, die deutschen Beziehungen zu China sind inzwischen täglich Thema. Welche Bedrohung sehen Sie, wenn wir über China sprechen?

Thomas Haldenwang: Ich habe ja kürzlich zitiert: Russland ist wie der Sturm, China wie der Klimawandel. Damit war gemeint, dass die stetig zunehmende Abhängigkeit Deutschlands von China in Bezug auf Daten, Technik und Fertigungskapazitäten in der IT sich viel nachhaltiger auswirkt als die deutsche Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Ziel der Volksrepublik ist es, ihren globalen Führungsanspruch durchzusetzen. China ist bestrebt, neue Technologien und Know-how zu erlangen und versucht politische Prozesse in Deutschland in seinem Sinne zu beeinflussen.

Das ist doch verbrieft und nachzulesen. Wieso gehen wir noch immer so ungeniert leichtsinnig mit China und dessen Beteiligungen in Deutschland um?

Haldenwang: Wir warnen seit einigen Jahren nicht nur in unserem Verfassungsschutzbericht vor den Gefahren, die von China ausgehen. Ich habe den Eindruck, dass diese Warnungen inzwischen auch durchaus erns tgenommen werden.

Ist die Politik in dieser Frage beratungsresistent oder schlicht zu kurzsichtig?

Haldenwang: Wir beraten die Bundesregierung und diese trifft eine Güterabwägung. Die wirtschaftlichen Chancen müssen immer gegen die Risiken abgewogen werden. Die Bundesregierung erstellt aktuell eine China-Strategie, die nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte in den Blick nimmt. Fakt ist: Wir sind heute schon viel abhängiger von China als von Russland. Wir brauchen eine Trendumkehr, und zwar eine gesamteuropäische.

Wie soll die China-Strategie aussehen?

Haldenwang: Die China-Strategie wird gegenwärtig unter Federführung des Auswärtigen Amtes in enger Abstimmung mit den beteiligten Ressorts und Behörden entwickelt. Die aktuelle Entwurfsfassung möchte ich nicht kommentieren.

Bei den Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ haben Sie sich unlängst positioniert: Das seien keine Extremisten, man müsse für deren Taten keine neuen Gesetze schaffen. Stehen Sie noch dazu?

Haldenwang: Mir ging es zunächst darum, festzustellen, dass die Klimabewegung sehr heterogen ist. Das linksextremistisch beeinflusste Bündnis „Ende Gelände“ oder die „Interventionistische Linke“ sind nicht „Fridays for Future“. Und: Friedliche Klimaproteste sind in einer Demokratie legitim. Sie verfolgen ein in der Verfassung verankertes Ziel: den Klimaschutz. Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen Jahr mit dem Urteil zum Klimaschutzgesetz das Klimaschutzziel des Artikels 20a GG noch einmal konkretisiert und den Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet. Dafür hege ich durchaus Sympathie.

Es klingt deutlich ein „Aber“ an.

Haldenwang: Ich verurteile jedoch Proteste, bei denen Straftaten begangen und die Rechte anderer beeinträchtigt werden. Die „Letzte Generation“ begeht Straftaten, auch schwere. Die Blockade auf dem Flughafengelände  in Berlin am 24. November dieses Jahres stellte eine neue Eskalationsstufe im Protestgeschehen dar. Es ist notwendig, dass solche Straftaten mit aller Härte verfolgt werden. Aber wenn ich als Verfassungsschützer gefragt werde, dann sage ich: Das ist gegenwärtig keine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Das Begehen von Straftaten kann nicht per se als Indikator für Extremismus gewertet werden. Entscheidend ist, ob diese aus verfassungsfeindlicher Motivation begangen werden. Das sehen wir bei der „Letzten Generation“ derzeit nicht. Daher ist diese auch kein Beobachtungsobjekt des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Damit das BfV eine Organisation als Beobachtungsobjekt einstufen und mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten kann, sind hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung notwendig. Grundsätzlich gilt: Ob die Voraussetzungen für den Beobachtungsauftrag des BfV vorliegen, unterliegt einer fortlaufenden Betrachtung, bei der alle vorliegenden Informationen einbezogen werden.

Diskutieren wir in Deutschland nicht immer viel zu aufgeregt und in extremen Positionen? Wo ist das Maß?

Haldenwang: Mein Ziel ist es, die Diskussion zu versachlichen. Wenn man die Klima-Proteste mit dem Terrorismus der RAF vergleicht, so halte ich das für keinen angemessenen Vergleich. Man muss bedenken, dass die RAF unsere verfassungsmäßige Ordnung verändern oder abschaffen wollte und mit diesem Ziel Repräsentanten des Staates und der Wirtschaft umgebracht hat.

Was passiert demnächst in Lützerath, wenn das Dorf im Rheinischen Revier abgebaggert wird. Droht ein neuer Fall „Hambach“? 

Haldenwang: Bei vielen Anlässen, die früher sehr konfliktträchtig waren – wie der 1. Mai in Berlin oder die Räumung autonomer Bereiche – kommt es heute nicht mehr zu so großen Clashes mit der Polizei wie früher. Aber es gibt kleine klandestine Gruppen, die sich untereinander gut kennen und zu äußerster Gewalt bereit sind. Wir sehen gezielte, brutale Gewalt gegen den politischen Gegner und die Polizei. Auch im Hambacher Forst und im Dannenröder Forst wurde gewaltsam gegen Polizisten vorgegangen. Gewalttätige Krawalle erwarte ich auch bei der Räumung von Lützerath. Da versammeln sich neben Klimaaktivisten jetzt auch Angehörige der gewaltbereiten linksextremistischen Szene. Extremisten versuchen über relevante gesellschaftliche Themen wie Energiekrise und Inflation Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden. Für Linksextremisten sind es auch Themen wie Klima, Aufrüstung, Nato und USA als Feindbild. Die rechtsextremistische Szene setzt auf Themen wie Migration, Flüchtlingspolitik oder die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung.

Herr Haldenwang, müssen wir uns in Deutschland Sorgen machen um unsere Demokratie?

Haldenwang: Die Bedrohungen sind vielfältig. Trotzdem glaube ich, dass wir im Gegensatz zu vielen anderen Ländern eine sehr gefestigte Demokratie haben. Aber wir haben auch eine große schweigende Mehrheit, die deutlicher Position gegen Extremismus beziehen müsste. Das merkt man auch jetzt wieder: Der von vielen wegen der Energiekrise und Inflation erwartete Wutwinter ist nicht eingetreten. Und ich erwarte ihn auch in der aktuellen Situation nicht. Demonstrationen gibt es vor allem im Osten, in Thüringen und in Sachsen. Da laufen viele bekannte Personen aus dem rechtsextremistischen Lager mit – das bürgerliche Publikum hat sich zurückgezogen. Die rechtsextremistische Szene sucht nach neuen Themen, die verfangen. Es wird wohl wieder das Flüchtlingsthema sein. Wir haben eine hohe Zahl von Geflüchteten aus Afghanistan, Pakistan, Syrien, Irak, Nordafrika, da ist die Akzeptanz geringer als bei Geflüchteten aus der Ukraine.

Täuscht der Eindruck oder hat islamistischer Terrorismus nachgelassen in Deutschland?

Haldenwang: Die Bedrohungslage ist unverändert hoch, es gibt nach wie vor umfangreiche Propaganda im Netz. Der IS und Al-Kaida wollen nach wie vor medienwirksame Anschläge verüben. In Deutschland sehen wir derzeit keine Pläne für komplexe Anschläge. Durch die Schwächung des IS in seinem Kerngebiet in Syrien und dem Irak sind viele Strukturen zerschlagen worden. Wir müssen aber damit rechnen, dass der IS sich international stärker aufstellt.  Die Sicherheitsbehörden haben sich gut auf die Aufklärung großer Zellen eingestellt. Eine reale Gefahr geht allerdings weiterhin von Einzeltätern mit einfachen Tatmitteln aus: Messer, Beil, Pkw. Selbst radikalisiert, vielleicht sogar mit psychischen Problemen. Das ist fast schon Normalität bei uns geworden. Es kann jeden Tag in Deutschland so ein islamistischer Anschlag passieren. Und wir müssen befürchten, dass Al Kaida in Afghanistan unter der Taliban-Herrschaft wieder deutlich stärker wird, was auch globale Auswirkungen haben kann.  Erklärtes Ziel von Al-Kaida sind nach wie vor komplexe, medienwirksame Anschläge, für die es aber keine konkreten Hinweise gibt.

Ist unsere Demokratie auch wehrhaft genug, wenn wir über Cybersicherheit oder die Vorherrschaft etwa russischer Trolle im Internet reden?

Haldenwang: Wir sind ein freiheitlicher Staat, wir wollen ja Freiheit und Meinungsfreiheit gewährleisten. Wir sind kein Staat, der Inhalte im Internet zensiert. Aber natürlich müssen wir wehrhaft sein. Klar ist: Die Cyberabwehr in Deutschland ist auf einem Niveau, das auch vielen anderen Ländern Respekt abnötigt. Wir sind in der Lage, komplizierte Angriffe zu detektieren und die Wirtschaft zu warnen.

Wie beurteilen Sie die Situation der AfD?

Haldenwang: Wir bearbeiten sie als Verdachtsfall. Wir haben also hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte, dass es sich um eine Partei handelt, von der sich Teile gegen bestimmte Aspekte der freiheitlich demokratischen Grundordnung richten. Uns liegen Erkenntnisse vor, die Verstöße gegen die Menschenwürde nahelegen.  Muslimfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit sind an der Tagesordnung. Mit brachialem Wording agitieren sie gegen Minderheiten. Sie haben ein völkisches Verständnis, sie schließen Menschen anderer Herkunft aus und stellen den Rechtsstaat infrage, weil sie proklamieren, die Parteien hätten sich das Verfassungsgericht unterworfen. Sie erkennen dessen Entscheidungen inzwischen immer öfter nicht mehr an.

Wohin geht der personelle Trend innerhalb der Partei?

Haldenwang: Immer weiter nach Rechtsaußen. Wir hatten ja lange Zeit die Organisation des im April vor zwei Jahren offiziell aufgelösten Flügels um Björn Höcke und Andreas Kalbitz. Die haben sich selbst immer bei 30 Prozent verortet innerhalb der Partei. Nach dem Austritt von Jörg Meuthen als Vorsitzender konnte man die Verschiebung deutlicher sehen. Gemäßigte Personen verlassen mehr und mehr die Partei und überlassen den extremistischen Kräften das Feld. Der thüringische Landesverband unter Höcke ist durch das zuständige Amt für Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft.

Dann müsste die AfD absehbar verboten werden?

Haldenwang: Für Parteiverbote ist das Bundesverfassungsgericht zuständig. Voraussetzung wäre unter anderem der Nachweis eines aktiv-kämpferischen, aggressiven Verhaltens.

Was ist der Teil Ihrer Arbeit, der sie am meisten beschäftigt? 

Haldenwang: Die größte Bedrohung für die Demokratie in Deutschland ist nach  wie vor der Rechtsextremismus, dieses Gesamtgefüge von klassischen Rechtsextremisten bis hin zur Neuen Rechten. Die Neue Rechte bildet mit dem Institut für Staatspolitik, dem Compact-Magazin, der Bewegung Ein Prozent, der Identitären Bewegung und der Verbreitung ihrer Ideologie einen Nährboden für gewaltbereite Gruppierungen. Und nicht zu vergessen: Die sozialen Medien, die zahlreiche Radikalisierungsmöglichkeiten für einzelne Personen bieten.

Gerade fanden bundesweite Durchsuchungen in der Reichsbürgerszene statt. Wie bewerten Sie das Netzwerk?

Haldenwang: Das war ein wichtiger Schlag gegen militante Teile der Reichsbürgerszene, die weit vernetzt sind. Die Sicherheitsbehörden haben hier hervorragend zusammengearbeitet. Meine Behörde hat als Zentralstelle im Verfassungsschutzverbund Informationen gebündelt, eigene Erkenntnisse eingebracht und so aufbereitet, dass sie als Grundlage für die weiteren Ermittlungen von GBA und BKA dienen konnten. Von Reichsbürgern und Selbstverwaltern geht weiterhin eine hohe Gefahr aus.  Wir hatten diese Szene immer aufmerksam im Blick. Die Szene ist nach wie vor sehr aktiv und hat im letzten Jahr erneut erheblichen Zulauf erhalten. Zuletzt rechneten wir 21 000 Personen der Szene zu, davon schätzen wir 2100 als gewaltorientiert ein. Das aufgedeckte Netzwerk ist ein Musterbeispiel für die Herausbildung einer neuen gewaltorientierten Mischszene, in der Reichsbürgerideologien, Verschwörungserzählungen aus dem Bereich der Delegitimierer  und rechtsextremistische Narrative zusammenfließen.