„Religionsunterricht für alle“ ist keine Alternative für alle

zu: „,Religionsunterricht für alle’ – Ein gewinnbringendes Modell?“, WZ vom 10. November

Viele Kinder haben jede Woche Religionsunterricht. Manche besuchen stattdessen auch die Schulfächer Ethik oder Philosophie.

Foto: dpa/Friso Gentsch

Die Westdeutsche Zeitung berichtete über den Vortrag „Religionsunterricht für alle“, der im Rahmen der Reihe „Religionspädagogische Denkräume“ am 6. November von Jochen Bauer gehalten wurde. Dieser Beitrag stellt das sogenannte Hamburger Modell sehr unkritisch vor.

Bereits der Titel stellt eine Irreführung dar: Der „Religionsunterricht für alle“, wie das sogenannte Hamburger Modell umschrieben wird, ist nur ein Religionsunterricht für bestimmte Kinder: Kinder von (evangelischen) Christen, Muslime und Aleviten. Alle anderen Konfessionen und vor allem der wachsende Teil der konfessionslosen Kinder bleiben außen vor. Zwar dürfen auch sie großzügigerweise an diesem Unterricht teilnehmen, aber ihre Position wird nicht eigens vertreten. Ein echter gemeinsamer Werte- und Reflexionsunterricht, der Ähnlichkeiten und Differenzen stärkt, findet damit nicht statt.

Angesichts dieser weltanschaulichen Vielfalt und insbesondere der weit verbreiteten Säkularität stellt sich also die Frage, ob das Modell eines Religionsunterrichts noch angemessen ist. Eine Alternative ist sogar bereits vorhanden: An weiterführenden Schulen existiert Praktische Philosophie als ordentliches Ersatzfach. Mit diesem innovativen Ansatz hat das Land NRW schon längst die Basis gelegt, um gemeinsam über existentielle Fragen nachdenken zu können, um Grundwerte unserer Demokratie zu begründen und zu reflektieren. Es gehört zur DNA des Fachs, dass sich die unterschiedlichsten Weltanschauungen auf Augenhöhe begegnen können. Praktische Philosophie soll, so heißt es im Kernlehrplan, dazu befähigen „die Wirklichkeit differenziert wahrzunehmen und sich systematisch mit Sinn- und Wertefragen auseinanderzusetzen, sie (die erlernten Kompetenzen) bei der Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz anzuwenden und in einer demokratischen Gesellschaft selbstbestimmt, verantwortungsbewusst und tolerant zu leben.“

Nicht ohne Grund wird darum Praktische Philosophie inklusive Religionskunde immer wieder von der Lehrergewerkschaft GEW und Vertretern der Grundschulen als Pflichtfach für alle Schüler gefordert. Denn gerade Grundschulen kennen in NRW derzeit keine Alternative zum Religionsunterricht mit seinem hohen organisatorischen Aufwand. Deshalb ist auch geradezu selbstverständlich, dass sich eine Grundschulleiterin für das Hamburger Modell begeistern kann.

Rechtlich scheint das Hamburger-Modell derzeit auch der einzige Weg, denn auf Religionsunterricht herrscht in Deutschland ein verfassungsmäßiger Rechtsanspruch, auf philosophische Denkfreiheit und Weltoffenheit aber nicht. Das ist bedauerlich, denn ein gemeinsamer Unterricht verhindert das Aufspalten von Klassengemeinschaften, was Diskriminierung zur Folge haben kann und fördert ein Verständnis der Schüler untereinander. Damit bietet ein echtes gemeinsames Fach die Möglichkeit einer Verständigung aller in einer pluralen und offenen Gesellschaft.

Nur so kann ein Dialog entstehen, an dem sich alle Positionen beteiligen können, gerade weil die Lehrkraft der Neutralität verpflichtet ist, kann sie das vielstimmige Konzert moderieren. Die Gewalttaten von Paris haben uns erneut gezeigt, wie wichtig und anspruchsvoll diese Aufgabe ist.

Henrike Lerch, 2. Vorsitzende der Gemeinschaft Bergisches Land des Humanistischen Verbandes, per E-Mail