Festakt im Rathaus Tag der Deutschen Einheit – „Mauern machen Weltkarriere“
Kaarst · Der Historiker Frank Wolff hielt beim Festakt der Stadt Kaarst am Tag der Deutschen Einheit den Festvortrag. Überschrieben war er mit „Alte und neue Mauern“.
„Mauern bringen nichts“, sagte Bürgermeisterin Ursula Baum am Ende des Festaktes zum Tag der Deutschen Einheit im überaus gut besuchten Rathaus-Atrium. 1982 war Baum mit ihren Eltern nach Ungarn gefahren. Heute bekennt sie: „In einem freien Land zu leben, ist für mich das Wichtigste.“ Jedes Jahr lädt die Stadt Kaarst ihre Bürger ein, den Fall der Mauer und die Vereinigung beider deutscher Teilstaaten am Tag der Deutschen Einheit zu feiern – auch wenn die Euphorie in der deutschen Bevölkerung nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Wiedervereinigung 1990 nach über 30 Jahren abgeflacht ist.
Das Ende des Kalten Krieges führte zur Zuversicht, in eine Welt ohne Mauer aufzubrechen. Dass das eine Illusion war, machte der Festvortrag von Frank Wolff deutlich. Der 46-jährige Historiker lehrt am Historischen Seminar der Universität Osnabrück. Im Vorfeld hatte Wolff getwittert, sein Festvortrag werde „wenig jubilierend“ sein. Sein Thema waren alte und neue Mauern. In immer mehr Ländern auf der Welt, in Europa wie anderswo, wird versucht, der sozialen Herausforderung der Migration mit den militärischen Mitteln der gesicherten Abschottung zu begegnen.
„Mauern machen Weltkarriere“, so Wolff. Hatte der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan bei seiner Rede vor dem Brandenburger Tor am 12. Juni 1987 den sowjetischen Machthaber Gorbatschow noch aufgefordert, diese Mauer einzureißen – „Tear down this wall“ –, macht es einer seiner Nachfolger, Donald Trump, in seiner Präsidentschaft von 2017 bis 2021 zu seinem Ziel, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen, um die illegale Einwanderung aus Mittelamerika einzudämmen. Der „Irrweg Mauer“ sei allerdings bereits 1994 unter Bill Clinton begonnen worden. Wolff erlebte diese Ereignisse hautnah mit, weil er 2016 als Visiting Professor for German Studies an der University of Notre Dame in Indiana lehrte.
Heute ist, so Wolff, die Welt von Mauern überzogen, es sind Mauern aus Beton, Draht, Wüstensand oder Wasser. Die Grenze zwischen Polen und Belarus wurde ebenso mit Zäunen abgesichert wie jene am Rio Grande in Texas. Die EU bewegt Mittelmeerstaaten wie Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten oder die Türkei mit Geld, ihre Grenzen abzuschotten. Wie die Wüste im Süden der USA ist das Mittelmeer zu einem Massengrab der Flüchtlinge geworden. Der Lobgesang auf Frieden und Freiheit ist verklungen. Gab es in den 1990er Jahren eine Hoffnung auf eine Friedensdividende, beherrschen wachsende Grenzen die aktuelle Diskussion. Frank Wolff verortet sie vor allem in den Köpfen, mit Sprache würden wieder neue Grenzen gezogen. Als 1961 die Mauer in Berlin gebaut wurde, erschien sie als die Grenze des Kalten Krieges, als Ikone der Unfreiheit. Der SED diente sie der kommunistischen Herrschaftssicherung, als militärische Grenze schloss sie das letzte Schlupfloch. Durch die Staatssicherheit wurden in der Folge vielerlei Papiermauern errichtet, die das Leben der DDR-Bürger weiter einschränkten.
Der Historiker Wolff ist nach neueren Forschungen zum Schluss gekommen, dass die Forderung nach Reisefreiheit, die Diskussion der Menschenrechte in der Bevölkerung und die zunehmende Ausreisebewegung mitentscheidend für den Fall der Mauer waren. Zu wenig bekannt ist auch, dass der Beitritt der noch sozialistischen Republik Ungarn zur Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) 1989 die Grenzsituation und die Verfolgung von DDR-Bürgern in Ungarn grundlegend veränderte.
„Auch der GFK verdanken wir die deutsche Einheit“, sagte Wolff in seinem Vortrag. Den neuen Mauerbauern, die Migration bremsen wollen, antwortet der Historiker, dass Mauern auf Dauer nicht funktionieren, sie verzögerten lediglich Wanderungsbewegungen und förderten sogar dauerhafte Migration. „Mauern sind nicht mit den Menschenrechten kompatibel.“ Musikalisch umrahmte der Gospelchor Leslie B. Harmonies aus Mülheim an der Ruhr den Festakt. Die fünf Musiker schafften es am Ende, dass alle Zuhörer in den Beatles-Song „Let it be“ miteinstimmten.