Altes Ladenlokal in Osterath Wo die Uhren noch anders ticken

Brigitta Heinrichs betreibt eines der ältesten Ladenlokale. Pendeluhren und Ketten sind im Angebot. Internet und Kartenlesegeräte gibt es bei ihr nicht.

Brigitta Heinrichs steht in ihrem Geschäft an der Hochstraße in Osterath. Sie betreibt es seit 1953.

Foto: RP/Viktoria Spinrad

Zwischen dem Ticken ihrer Uhren hat Brigitta Heinrichs gerade noch über den Untergang des alten Uhrmacherhandwerks sinniert, da ertönt der Gong ihrer Ladentür. Hinein kommt ein Mann im Kapuzenpulli. Er will keine Uhr, hat aber eine Frage: Ob das Haus noch zum Verkauf stehe? Die 82-Jährige drückt den Rücken durch. „Das ist alles schon gelaufen“, sagt sie, es ist eine höfliche Antwort zu einem wunden Punkt. Als der Mann wieder raus ist, füllt das Ticken wieder den Raum, der beständige Soundtrack ihres Lebens.

Es ist ein Klang, den sich die Frau nicht nehmen lassen mag. Zumindest jetzt noch nicht. Seit 1953 hütet sie über ihr Reich in der Osterather Hochstraße. In dem wohl ältesten Ladenlokal Meerbuschs ist trotz des Tickens scheinbar die Zeit stehen geblieben: Es gibt französische Pendeluhren und Perlenketten, Halbedelsteine und Hemden, filigrane Handarbeiten und Funkwecker. Kein Internet, kein Kartenzahlgerät, Bestellungen laufen über das Telefon. Würden ihre Katzen nicht immer wieder durch das Bild spazieren, die Szenerie könnte aus einem Stillleben entnommen sein.

Eine Standuhr sendet einen tiefen, erhabenen Schlag durch Heinrichs tickendes Reich. „Schön, nicht?“ sagt die Frau mit einem Lächeln und streicht über das alte Holz. Die Standuhr steht schon fast so lange wie sie in dem Laden – ein Ladenhüter, wenn man es ökonomisch betrachten will. Aber muss es immer das Geld sein, was zählt? So mancher würde hier offenbar am liebsten schon gestern eingezogen sein. Doch Heinrichs denkt gar nicht daran, ihr immer mehr aus der Zeit tickendes Reich aufzugeben. Was treibt diese Frau an?

Die Tür quietscht, der Gong klingelt. Diesmal ist es eine ältere Frau mit Bastkorb. Eine alte Bekannte, die Frauen kennen sich seit 45 Jahren. Herzliche Begrüßung, endlich schaff ich’s wieder, wie geht’s, haben Sie das Buch schon gelesen? „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen“, sagt Heinrichs entschuldigend und dreht die lose Perle vor ihrem Auge, den die Besucherin mitgebracht hat: „Das mach ich Ihnen bis Anfang nächster Woche fertig.“

Wieder sendet eine Standuhr erhabene Klänge durch den Raum, wie ein Gruß aus der Vergangenheit in das sich immer schneller drehende Hier und Jetzt. In der sie in dem Laden, in dem sie fast ihr ganzes Leben verbracht hat, zwar weiter Uhren verkaufen kann – sich die Dinge aber in einer Geschwindigkeit verändern, dass einem schwindelig werden kann, auch in Osterath. Der Tapeten- und Farbenladen im alten Küsterhaus: weg. Der Frisör in der Kurve: weg. Genau wie der Radmacher und der Fleischer, „alles weg“, sagt Heinrichs.

In Gefangenschaft den
Russen die Uhren gemacht

Mit dem Finger malt sie einen Kreis in die Luft. Um sie herum gibt es nun ein Fitnessstudio, einen Drogeriemarkt, einen Discounter und ein Neubaugebiet, was ihren Laden zu einer Art Enklave inmitten des Ladensterbens macht. „Wenn wir die Bank hier nicht hätten, wüsste ich nicht, wie es aussehen würde“, sagt sie. Bereits Heinrichs Vater war Uhrmacher und Optiker. Er hat den Russen während seiner Kriegsgefangenschaft die Uhren gemacht. Nach seiner Rückkehr landete die damals noch sechsköpfige Familie aus Pommern auf der Suche nach einem Neuanfang zunächst in Bonn. „Da haben wir niemanden verstanden, die Leute sprachen alle Platt“, sagt sie und lacht, dass die Lesebrille an ihrem Hals bebt. Schließlich standen sie vor dem damals noch leeren Ladenlokal in der Hochstraße. „Ich hab gesagt: Papa, was wollen wir denn hier? Er meinte, wir müssten doch wieder klein anfangen“, so schildert es Heinrichs. Während ihre Schwestern technische Zeichner, Optiker und Hausfrauen wurden, ließ sich Heinrichs wie ihr Vater auf die Arbeit mit Lupe, Pinzette und Schraubenzieher ein. „Ich hatte die Ruhe und die Geduld“, sagt sie. Der Laden ist bis heute nach ihrem Vater benannt: „Willi Läge.“

Der Neuanfang in NRW war eine Herausforderung. Das einfache Glas im Schaufenster hielt weder Kälte noch Lärm draußen.

Wochenlöhner zahlten ihre Tischuhren in Raten ab

Skeptisch blickten die Osterather von dort auf das ambitionierte Uhrmacher-Gespann. „Wir hatten kein Hemd aufm Hintern. Man hat uns keine vier Wochen gegeben“, erzählt Heinrichs. Doch man passte sich an, ließ Wochenlöhner ihre Tischuhren in Raten abbezahlen und trieb das Geld bei Bedarf wieder ein. Heinrichs deutet hinter die alte Theke: Hier saßen sie, an zwei Tischen werkelten Vater und Tochter parallel an den Uhren für den sozialen Aufstieg. Die Kuckucksuhren wurden zu Funkweckern, aus dem einfachen Glas mehrfach verglaste Scheiben – und aus der vertriebenen Familie schließlich Hausbesitzer.

Sie deutet auf die gediegenen Armbanduhren auf der Theke, „heute ist ja alles aus Plastik“. Statt mitzuschwimmen im Sog der Zeit, hält Heinrichs an ihrer Haltung fest. Mittlerweile kommen immer mehr Menschen in ihren Laden, die bitten, ihre Bänder ihrer Plastikuhren aus dem Internet anzupassen. Heinrichs empfiehlt ihnen, sich eine richtige Uhr zuzulegen: „Ich möchte noch ein bisschen mein Gesicht wahren.“

Doch der Zeitgeist kennt viele Wege, sich breit zu machen. Ihr Laden im Erdgeschoss mutiert zu einer inoffiziellen Paketannahmestelle. Brigitta Heinrichs breitet ihre Arme aus: So groß seien die Stühle gewesen, die sie für Nachbarn über Ostern gelagert habe. „Die Leute bestellen immer wieder und sind doch nie zuhause“, sagt sie und lacht. Warum nicht gleich eine Hermes-Annahmestelle draus machen? „Das wäre das Letzte jetzt“, sagt Brigitta Heinrichs. Viel lieber ist ihr das Verbindliche, Persönliche, Begegnungen wie die mit ihrer Stammkundin.