100.000 Einwohner: Christiane machte Neuss ganz groß
Mit der Geburt der Wenke-Tochter hatte Neuss 1963 100 000 Einwohner — und wurde Großstadt.
Neuss. Seit Tagen schon fieberten die Neusser mit, lange konnte es nicht mehr dauern. „Da hab’ ich so ganz im Spaß gesagt: Ich mach das schon“, erzählt Franz Josef Wenke (77). Er machte es nicht, doch seine Frau Christel: Am 20. Januar 1963, einem Sonntag, brachte sie im Lukaskrankenhaus ihr zweites Kind zur Welt. Die kleine Christiane, die 100 000. Neusserin, machte die Stadt zur Großstadt.
Es war der Sebastianustag, die Further Schützen feierten. Franz Josef Wenke, Sohn des langjährigen Präsidenten der Sebastianus-Schützenbruderschaft Leo Wenke, selbst Scheibenschütze, später über Jahre deren Vorsitzender und auch Schützenkönig, feierte doppelt. Noch wussten er und seine Frau nichts von Christianes gesamtstädtischer Bedeutung. Kein Amt erfasste am Sonntag die Geburt, niemand konnte das Ereignis mit Wegzügen und Sterbefällen verrechnen. Darüber verging der Montag,
„Dann kam ein Anruf, ich sollte schnell ins Krankenhaus“, erinnert sich Wenke, „das war natürlich ein Schreck“. Umso größer die Überraschung. Im Zimmer erwarteten ihn Oberbürgermeister Peter Wilhelm Kallen und jede Menge Journalisten, Kameras, Fernsehleute. Familie Wenke war an diesem Tag eine Berühmtheit. Auch mit einer Großfackel der Scheibenschützen wurde das Ereignis gewürdigt.
„In der niederrheinischen Landschaft schlafen ein paar Städte, von denen nur Heimatfreunde etwas melden können“, hieß es damals in einer Reportage der ZEIT, und zu diesen Städten zählte die Autorin auch Neuss, 1963 noch Neuß.
Doch die Stadt hatte bereits eine rasante Entwicklung hinter sich, zählte sogar zu den am schnellsten wachsenden Kommunen in Deutschland. Die Wirtschaft hielt mit und wies ebenfalls erstaunliche Steigerungsraten auf. Kurz nach der bedeutungsvollen Geburt verabschiedete der Stadtrat einstimmig einen Etat in der Rekordhöhe von 90 Millionen Mark, und immer wieder waren Stimmen zu hören, die vor dem allzu schnellen Wachsen warnten — wie sollte die Infrastruktur Schritt halten?
Das kümmerte im Januar 1963 Familie Wenke, die damals an der Schulstraße lebte, wohl kaum. „Manchmal tuschelten die Leute in der Straße“, sagt Franz-Josef Wenke, „,die sind das’, hieß es dann“. Groß gefeiert hat die Stadt ihre Großstadtwerdung nicht. Christiane Wenke erhielt immerhin einen Pfennig pro Einwohner — „aber nicht als Kleingeld“, so Wenke. Und für die Kinder gab es am 22. Januar schulfrei. Das war es dann aber auch.
50 Jahre später feiert Christiane Steinforth, geborene Wenke, nun bald ihren runden Geburtstag. Dass sie einst Berühmtheit erlangte, sei ihr „ziemlich wurscht“, sagt sie: „Das war ja wohl keine besondere Leistung von mir.“ Was nicht heißt, dass die Stadt ihr wenig bedeute: Wie ihre Eltern ist auch sie nacvh eigenem Bekenntnis „Neusserin durch und durch“.