(brh) Jetzt, im Frühjahr, kann Hans-Jürgen Kolvenbach überhaupt nicht schreiben. Da ruft ihn der Garten. Beim Gespräch mit dem Neusser Autoren blickt man vom Wohnzimmer auf einen rosa blühenden Kirschbaum unter strahlend blauem Himmel. Einen solch tollen Blick könne er beim Schreiben nicht ertragen. Um zu sich kommen zu können, braucht er Beschränktheit und „totale Langeweile“. Nur wenn er nichts anderes zu tun hat, zieht er sich vormittags unters Dach zurück, um an einem engen Schreibplatz seine „schlangenartigen Hypotaxen“ auszuformulieren.
Der Dichter unterm Dach hat im November 2024 seinen dritten Roman herausgebracht: „Spieglein, Spieglein abgewandt...“ Der Titel ist eine Idee seiner Frau Anne, die als Künstlerin auch das Titelbild beigesteuert hat. Ein Sprachspiel, das auf den Schneewittchen-Stoff anspielt und bereits eine Entwicklung im Mutter-Tochter-Konflikt vorwegnimmt. Doch der Reihe nach: Auf den 480 gut lesbaren Seiten des Romans entwickelt der Autor für seine Romanheldin Antonia Gruber eine unglaubliche wie temporeiche Entwicklungsgeschichte vom kleinen Kind in den österreichischen Alpen bis zum Fußfassen der jungen Frau im nordspanischen Küstendorf Cadaqués.
Kolvenbach greift tief in die Trickkiste und beruft sich auf Tagebücher einer geheimnisvollen Leserin. Im Grunde genommen handelt es sich um fünf Bücher im einen: Die Kindheit bei den Großeltern, die Einsamkeit im Internat, die Blitzkarriere als Jungstar im Film samt Mutter-Tochter-Konflikt, die Liebesgeschichte mit einem Franzosen vom Theater und das Wachwerden in der Welt des verschwundenen Vaters, dessen Haus nach seinem Tod plötzlich ihr neues Zuhause wird. Das muss so kommen, denn das Haus steht in Cadaqués, dem Lieblingsort der Kolvenbachs. Über 15 Jahre ist die Familie jeden Sommer dorthin gefahren. Dort steht auch das Haus von Salvador Dalí, der am nordöstlichsten Winkel Spaniens vom Bett aus über einen Spiegel als Erster im Lande die Sonne aufgehen sehen konnte. In Cadaqués traf sich Kolvenbach auch jährlich mit seinem Lehrerfreund und Malkasten-Künstler Hans-Walter Kivelitz. Nach dessen Tod 2022 hat er seinem Düsseldorfer Freund im Roman mit einer Szene ein kleines Denkmal gesetzt.
Nicht nur dieser besondere Ort ist in den Roman eingeflossen. Auch der Satz „Ich will, was ich will“ stammt von seiner eigenen Enkelin, aber passt wunderbar zu Antonias Entwicklungsgeschichte. Echt erlebt hat der Autor auch den schweren Autounfall an der Mosel. Das muss man aber nicht wissen: Der Roman, der Abschluss seiner Cadaqués-Trilogie, steht ganz für sich und wartet, entdeckt und gelesen zu werden.
Buch Hans Jürgen Kolvenbach: Spieglein, Spieglein abgewandt..., Selfpublisher Verlag Tredition, 2024, 480 Seiten, 18 Euro.