Berechenbarkeit Welche Rolle spielt der Zufall im Leben?

DÜSSELDORF · Nicht nur im Glücksspiel spielt das nicht Berechenbare eine entscheidende Rolle.

Wo die Roulette-Kugel liegen bleibt – der Zufall entscheidet.

Foto: dpa/Marcel Kusch

„Kommissar Zufall führt zu Einbrecherduo“. „Er kam durch Zufall zum Schauspieler-Beruf“. Zeitungsüberschriften der vergangenen Tage. Unabhängig davon, welches Thema sich dahinter verbirgt – stimmt die These, gibt es ihn überhaupt, den Zufall? Oder kommt sowieso alles so, wie es kommen muss? Mit ihrem „Et kütt wie et kütt“ umschreiben die Menschen in Köln diese Gegenthese. Das Sich-Fügen darin, dass alles vorherbestimmt sei. Dass es keinen Platz für den Zufall gebe. Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat diesen Gedanken elegant formuliert: „Auch das Zufälligste ist nur ein auf entfernterem Wege herangekommenes Notwendiges.“

Alles vorherbestimmt? Nein

Astrologie-Anhänger könnten diese Idee unterstützen. Denn wer glaubt, dass die Konstellation der Sterne sein Schicksal anzeigt, müsste auch daran glauben, dass sein Lebensweg unabänderlich ist. So wie bei einem Roman: Alles in der Geschichte, die da zwischen zwei Buchdeckeln vor uns auf dem Tisch liegt, steht fest. Gewiss, es gibt viele Wendungen, die Protagonisten haben Glück und Pech, werden krank, sterben gar, aber all das ist festgelegt. Vom Autor.

So wie vielleicht auch unser Leben detailgenau geplant ist von einer höheren Instanz? Doch daran dürften auch die Gottesfürchtigen nicht glauben. Denn welchen Sinn hätte dann das Beten, selbst das kleine Stoßgebet im Alltag: Bitte lass die Parklücke frei sein, bitte lass den Ball ins Tor gehen. Ein Gott, der bei kleinen und großen Dingen eingreift, überlässt ja wohl nichts dem Zufall, schon gar nicht, wenn er auf Gebete reagiert.

Zufall und Wissenschaft

Jenseits von Astrologie, Literatur und Religion ist der Zufall sehr wohl anerkannt. Die Wissenschaft weiß von ihm zu erzählen, und wir alle bekommen das zu spüren. Jede neue Mutante des Coronavirus ist Ergebnis einer zufälligen Veränderung im Erbgut, die sich gegenüber der Vorgänger-Variante durchsetzt. Auch die Quantenphysiker, die untersuchen, was auf der Ebene kleinster Teilchen geschieht, sprechen von nicht vorhersehbaren, eben zufälligen Quantensprüngen.

Zufall und Persönlichkeit

Schon das, was den einzelnen Menschen ausmacht, beruht auf einer Kette von Zufällen, auf die wir keinerlei Einfluss haben. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon betont: „Wir machen uns viel zu selten bewusst, wie sehr unsere individuellen Eigenschaften von zufälligen Faktoren bestimmt sind und wie leicht es hätte anders kommen können: schon ein kurzer Sauerstoffmangel bei meiner Geburt hätte dafür gesorgt, dass ich keine Bücher schreiben, sondern Kugelschreiber in einer Behindertenwerkstatt zusammenschrauben würde. Eine andere Familie oder ein anderer Freundeskreis hätten womöglich schon genügt, und ich würde heute nicht auf Vortragsreisen gehen, sondern eine langjährige Haftstrafe als Mörder verbüßen...“

Zufall und Statistik

Im täglichen Leben betrachten wir etwas als Zufall und sehen ein Ereignis als etwas Besonderes an, eben weil es äußerst selten oder unwahrscheinlich ist. Aber wirklich besonders wäre es doch erst, wenn ein unwahrscheinliches Ereignis niemals einträte.  Max Frisch hat das in seinem Roman „Homo Faber“ anschaulich erklärt: „Das Wahrscheinliche und das Unwahrscheinliche unterscheiden sich nicht dem Wesen nach, sondern nur der Häufigkeit nach.  Wenn das Unwahrscheinliche eintritt, ist nichts Höheres dabei, keinerlei Wunder, wie es der Laie so gerne haben möchte. Indem wir vom Wahrscheinlichen sprechen, ist das Unwahrscheinliche immer schon inbegriffen, und zwar als Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, das Unwahrscheinliche, so besteht für Unsereinen keinerlei Grund zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifikation.“

Zufall und Planung

Menschen, die gern alles bis ins letzte Detail planen, werden freilich vom Zufall unangenehm gestört. Jede unerwartete Wendung durchkreuzt die eigene Strategie. „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen“, bringt es Friedrich Dürrenmatt auf den Punkt. Dabei sind es doch oft erst die zu Problemen führenden Zufälle, die neue Perspektiven eröffnen können. So gesehen erscheint es eher ratsam, sich den Zufall zum Freund machen.

Zufall und das (gute) Leben

Und wie schrecklich wäre am Ende eine Gewissheit, ein Lebensplan, auf den wir bis zum Tod felsenfest bauen könnten, nein müssten. Gerade die Ungewissheit, die mögliche Wendung des Schicksals im Kleinen wie im Großen macht doch das Leben letztlich aus. Dass man etwa in einer Kneipe zufällig einem Menschen begegnet, den man sonst nie kennengelernt hätte. Nur weil beide zur gleichen Zeit beschlossen haben, an diesem Tag nicht zu Hause zu bleiben und so dem Zufall durch eigenes Zutun auf die Sprünge halfen. Jedes solcher Zusammentreffen führt zu einer endlosen Kette weiterer Zufälle, das können wir alle im Rückblick auf unser Leben wunderbar nachvollziehen.

„Der Zufall ist mächtig, und plötzlich bekommt man ein Schicksal, das nie für einen bestimmt war“, schreibt Daniel Kehlmann in seinem Roman „Fatum“. Fatum ist das lateinische Wort für Schicksal. Gewiss, Schicksal klingt schon wieder ein bisschen wie Vorherbestimmung. Aber eben nicht im Sinne von unabwendbar. Es ist wie immer im Leben eine Kombination aus Zufall und der Reaktion darauf, die den Unterschied macht: dem Eingehen auf diesen Zufall, das der britische Sänger Bryan Ferry so auf den Punkt bringt: „Watch out for a simple twist of fate“ – nimm auch die kleinste Schicksalswendung wahr. Und dann mach was draus, ließe sich ergänzen.