Hans Günter Winkler: Ein goldener Moment für die Ewigkeit
Vor 60 Jahren gewann Winkler mit Halla Gold bei den Olympischen Spielen. Der gebürtige Barmer und erfolgreichste Springreiter der Welt wird am Sonntag 90 Jahre alt. Die WZ besuchte ihn in Warendorf.
Wuppertal/Warendorf. Die Fahnen, das Stadion, die Olympischen Ringe. Er ist am Ziel. Das ist der Moment, für den er sein ganzes Leben gekämpft hat. Der Parcours ist schwer, sehr schwer. Doch er weiß, dass er sich auf seine Stute verlassen kann. Halla. „Sie war intelligent und feinfühlig. Das ist alles nur auf einem Pferd wie ihr möglich gewesen“, erinnert sich Hans Günter Winkler. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und ein Leuchten streift die braun-grünen Augen hinter der eleganten Hornbrille. „Ja, sie war eine große Liebe meines Lebens“, sagt er versonnen. Dann springt er wieder zurück zu dem Augenblick, der sie beide vor 60 Jahren zur Legende machte.
Das Drama beginnt im ersten Umlauf. „Der Palisadensprung, das vorletzte Hindernis, war eine Fehlerquelle. Ich nahm die Stute zurück. Sie hob ab wie ein Hochspringer, schnickste mit den Hinterbeinen und ich presste die Schenkel noch mehr zusammen, um nicht herunter zu fallen. Dann spürte ich einen stechenden Schmerz in der Leiste.“ Den Schlusssprung muss Halla ohne die sicheren Hilfen ihres Reiters überwinden. Die Stange fällt.
„Im Ziel haben Helfer mich aus dem Sattel gehoben, ein Stück getragen und auf eine Bank gesetzt.“ Der 89-Jährige macht eine Pause. Sein Blick gleitet aus dem Fenster seines Hauses auf die hölzerne Bank, die seine Initialen trägt, über den englischen Rasen und das von Bäumen und Hecken gesäumte Grundstück bis zum Gelände der Bundeswehrsportschule in Warendorf, das sich schemenhaft zwischen den Zweigen abzeichnet.
Dort begann 1950 sein gemeinsamer Weg mit Halla. „Während ich auf einem anderen Pferd saß, versuchte ein Wachtmeister der Kavallerieschule, sie reitbar zu machen.“ Das langbeinige Pferd mit einer Anglo-Araber-Mutter und einem Traber-Vater war nicht schnell genug für die Rennbahn. „Doch sie war mit viel Schub aus der Hinterhand ausgestattet und hatte großes Sprungvermögen.“
Das war für den ehrgeizigen Reiter entscheidend, als er das schwierige Pferd schließlich anvertraut bekam. „Sie war ein braunes Tier ohne besondere Merkmale. Der Gestütsleiter warnte mich, vorsichtig zu sein. Doch ich machte mir keine Gedanken darüber, worauf ich mich einließ. Ich wusste nur, dass sie springen konnte.“ Das allein zählte. Denn Hans Günter Winkler war entschlossen, eines Tages für Deutschland zu reiten. „Immer wieder habe ich zu hören bekommen, dass ich das nie schaffen werde. Denn ich war ein Niemand. Doch ich hatte den unbedingten Willen“, betont der noch immer erfolgreichste Springreiter der Welt, und aus seinen Zügen sprechen Entschlossenheit und Kampfgeist.
Seine eiserne Disziplin treibt ihn auch in Stockholm 1956 dazu, sich den Schmerzen nicht zu ergeben. „Das ging eigentlich gar nicht. Doch aufzugeben kam nicht in Frage. Dann wäre die Mannschaft geplatzt“, erzählt Hans Günter Winkler. Mit einem Gürtel bindet er auf jener Bank seine Beine zusammen. „So habe ich kaum etwas gespürt. Wenn ich aufgestanden wäre, wäre alles aus gewesen. Das war mir unbewusst klar.“ Der Teamarzt hatte einen Leistenbruch diagnostiziert, der sich später als Muskelriss entpuppen sollte. Winkler beißt die Zähne zusammen, beherrscht mit dem Kopf den Körper.
Sich scheinbar übermächtigen Gegnern mutig zu stellen, hat er von seinem Vater gelernt. „Als ich von einem älteren Jungen in der Schule gehänselt wurde, sagte er mir, ich solle in die Offensive gehen, dann hätte ich nie wieder Probleme mit ihm.“ Sein Vater setzte ihn auch erstmals in den Sattel, denn er arbeitete als Reitlehrer in Wuppertal. „Wir wohnten auf dem Lichtenplatz in Barmen, nicht in Elberfeld. Das ist ein Unterschied“, stellt Hans Günter Winkler mit Nachdruck klar. „Dort bin ich wohlbehütet groß geworden.“
Sportlich war er schon als kleiner Junge. „Hänschen klein, ging allein, in den Barmer Turnverein“, singt er mit spitzbübischem Lächeln vor sich hin. Für wenige Sekunden scheint er wieder das unbekümmerte Kind zu sein, das pfeifend durch die Straßen seiner Heimatstadt hüpft.
Längst ist er in Warendorf zu Hause. Umgeben von unzähligen Preisen und Erinnerungen an seine erfolgreiche Karriere sitzt er im karierten Hemd und Lodenjanker in einem cognacfarbenen Ohrensessel und lässt die Vergangenheit mit detailreichen Beschreibungen und vielen kleinen Gesten so lebendig werden, als habe er sich erst gestern mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Hallas Rücken heben lassen.
„Als ich die Beine seitwärts bewegte, um mich in den Sattel zu setzen, begann mein Leidensweg.“ Der Tierarzt, Dr. Willi Büsing, verabreicht ihm ein Schmerzmittel. Trotzdem kann er sich nur mit Mühe auf dem Pferd halten. „Die Stute hat sofort gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war.“ Sie trägt ihn. Hilflos ist ihr Reiter im Sattel nicht, er kämpft für die Mannschaft, für Gold, für seinen Traum.
„Oben habe ich mich so leicht wie möglich gemacht. Im Galopp auf der Geraden war es auszuhalten, doch über dem Sprung war es, als hätte mir jemand ein Messer in den Leib gerammt.“ Er schreit bei jedem Hindernis laut auf, dirigiert Halla aber mit immer noch geschmeidigem Sitz und leichter Zügelführung durch den schweren Kurs. „Sie hatte fünf Beine. Das fünfte war ihr Hals. Er war wie eine Balancierstange.“ Zweimal droht Hans Günter Winkler den Halt zu verlieren, doch das Pferd lässt sich davon nicht irritieren. Gleichmäßig galoppiert die Stute von Sprung zu Sprung, bleibt fehlerfrei.
Der Ritt ist Geschichte, seine Geschichte. Hans Günter Winkler erzählt sie mit leiser Stimme und hörbarem Stolz. Noch einmal scheint er den Jubel der Zuschauer im Stadion zu hören, noch einmal das Gefühl zu spüren, sein großes Ziel erreicht zu haben. Die beiden Goldmedaillen aus Stockholm bewahrt er in einer Vitrine auf. Vor dem grünen Futteral wirken sie auf den ersten Blick unscheinbar, doch in seinen Augen überstrahlt ihr Glanz alles andere. Halla hat er im Garten, hinter dem Teich mit den eindrucksvollen Koi-Karpfen, ein Denkmal gesetzt. Er selbst ist mit insgesamt fünf olympischen Goldmedaillen Legende.
Um sein Lebenswerk für die Nachwelt zu erhalten, hat er eine Stiftung gegründet, die Leitung seiner Frau Debby übertragen. Sie lächelt von einem Foto, das im Salon auf einem Tisch steht, ein Strauß frischer Rosen daneben. „Ihr Tod war der schlimmste Schlag für mich. Sie war 30 Jahre jünger, hatte hier alles im Griff. Dieser Reitunfall hätte nie passieren dürfen“, sagt er über jenen schicksalhaften 18. Februar 2011. „Es war meine Beerdigung“, fügt er fast tonlos hinzu und unendliche Traurigkeit liegt in diesem Moment in seinem Blick.
Seine unzähligen Preise und Auszeichnungen, die ein ganzes Zimmer bis unter die Decke füllen, können diesen Verlust nicht überstrahlen. Doch der goldene Augenblick, in dem Halla ihren verletzten Reiter Stockholm ins Ziel trägt, bleibt für die Ewigkeit.