Was glauben Sie denn? Kirchenkolumne: Die Tage des Hornblasens
Wuppertal · Ruth Tutzinger, Vorsitzende des Gemeinderates der Jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal, schreibt über die jüdischen Feiertage, die in der Corona-Zeit anders ausfallen als sonst.
Im Moment befinden wir uns zwischen unseren hohen Feiertagen „Rosch Haschana“ (dem Neujahr) und Jom Kippur (dem Versöhnungsfest). Aus diesem Grund werde ich unseren Streifzug durch die Musik erst in meinem nächsten Artikel fortsetzen und ihnen jetzt über die Feiertage erzählen, die in diesem Jahr für uns Juden, wie gewiss auch für die Menschen anderer Religionsgemeinschaften, völlig anders ausfallen werden, was unsere Welt beinahe auf den Kopf stellt. Juden leben verstreut in fast allen Teilen der Welt, das hatte einst historische Gründe, wie wir wissen.
Heute ist es so, dass die Kinder, wenn sie flügge werden, die Welt erkunden wollen. Viele bleiben dann irgendwo „hängen“ und gründen dort eine eigene Familie. Wenn aber die Feiertage nahen, machen sie sich mit Kind und Kegel auf den Weg zu den Eltern oder Großeltern, fliegen oder fahren nach Israel oder dorthin, wo immer die Stammfamilie lebt. Wer keine Angehörigen hat, findet sich zur gemeinsamen Feier in den jeweiligen Gemeindesälen ein. Einen Seder, den Vorabend von Pessach, zu Hause allein zu verbringen, wäre zum Beispiel undenkbar. Nicht zum Seder gehen zu können, war der erste Schock im Frühjahr zu Beginn der Pandemie. Da dachte man noch, im Herbst zu den Hohen Feiertagen sei der Spuk vorüber. Leider ist das nun nicht so. Im Gegenteil, in einigen Ländern und auch in Israel mussten die Regeln wieder verschärft werden.
In jeder Generation gab es Juden, die unter so schwierigen Bedingungen leben oder dahinvegetieren mussten, dass sie die Feiertage nicht begehen konnten. Aber man versuchte trotzdem sich nahe zu sein und sich zu trösten. Viele Juden sind temperamentvoll und emotional, sie umarmen und küssen sich gerne. Mund-Nasenschutz und Abstandsregel machen das heute unmöglich. Das ist absolut hart.
Am 1. Tischri beginnt das neue Jüdische Jahr (im Moment befinden wir uns im Jahr 5781). In der Tora (3. Mose 23, 24ff) wird dieser Tag der Tag des Gedenkens, des Hornblasens und der großen Versammlung genannt. In vielen Gemeinden werden seit Jahrhunderten die Hörner schon während des ganzen Vormonats nach dem Morgengebet geblasen, um die Gemeinde daran zu erinnern, dass die Hohen Feiertage bevorstehen und jeder über sein Leben in den vergangenen Monaten nachdenken soll. Diese Hörner vom Widder oder von der Antilope heißen Schofar und sind sehr schwer zu blasen. Doch wo kann man sie unter den heutigen Bedingungen noch blasen? Man darf ja keine Aerosole verbreiten. Bei schönem Wetter geht man in manchen Gemeinden dafür nach draußen. Doch nicht alle Gemeinden haben diese Möglichkeit.
Was meint „Tag des Gedenkens“ und „Tag der großen Versammlung“? Unsere Gelehrten interpretieren ihn als den Tag, an dem Gott über SEINE Welt zu Gericht sitzt. Wir alle sind vor IHM versammelt.
In den langen Bußgebeten, die meistens im Wechsel mit dem Kantor gesungen werden, hoffen wir darauf, dass Seine Gnade größer sein wird als SEINE Gerechtigkeit. Nach der Erschaffung der Welt befand ER, dass alles sehr gut sei. Auch den Ungehorsam des ersten Menschenpaares hat ER zwar nicht ungestraft gelassen, aber verziehen. Darauf stützt sich unsere Hoffnung. Darum feiern wir auch an diesem Tag die Vollendung der Schöpfung und haben bei allem Ernst viel Grund zur Freude. Wir wünschen uns ein rundes, süßes und erfolgreiches Jahr. Das drückt sich auch in unseren Speisen aus.
Übrigens ertönte der Schofar als wir am Sinai die Tora empfingen, damit wurden ebenfalls die Könige begrüßt. Als die Könige anfingen, die Jahre ihrer Herrschaft zu zählen, wählte man diesen Tag des Hornblasens zum Beginn der Jahreszählung. Seither ist der 1. Tischri im Jüdischen Kalender ein Neujahrstag. Ihm folgen bis zum 10. Tischri Tage tiefen Nachdenkens, der Reue und Buße. Wenn man sich bewusst wird, dass man einen Mitmenschen verletzt oder gekränkt hat, sollte man versuchen, das in Ordnung zu bringen. Missetaten, die wir Menschen uns gegenseitig antun, müssen wir auch unter uns bereinigen. Erst danach können wir den Ewigen bitten, sich über uns zu erbarmen. Der 10. Tischri, Jom Kippur (das Versöhnungsfest), ist der einzige Tag in der Tora, der zu strengem Fasten verpflichtet. Wir tragen nach Möglichkeit weiße Kleider, weil wir den Engeln nahe sein möchten. Auch an diesem Tag werden die langen Bußgebete eigentlich im Wechsel mit dem Kantor gesungen. In diesem Jahr, wird es aber nur ein sehr stilles Gebet werden. Umso mehr werden wir uns gewiss noch nach Jahren daran erinnern. Möge für die ganze Schöpfung der Himmel offenstehen und das kommende Jahr uns allen weniger Hass, sondern mehr Frieden, Verständnis, Sicherheit und Nähe bringen.