Freies Netzwerk Kultur Kolumne: Was erwarten Sie von der Kunst?

Die Neugier ist eine stetige Reise zum Nullpunkt.

Max Christian Graeff.

Foto: C. Paravicini

„Hochstapler!“ zischte er mir nach, als sich unsere Wege in der Stadt kreuzten. Er ist ein Teilnehmer aus einem Kurs-Angebot, das Interessierte jeglicher Erfahrung zum Wahrnehmen ihrer schreibenden Fähigkeiten animieren soll. Viele kommen seit Jahren gerne in die Schreibwerkstatt, tauschen Texte und Fragen aus und versuchen ihre Lust aufs Erzählen mit Aspekten der Gegenwart anzureichern. Immer wieder kommen jedoch auch Menschen, die ohne Arbeit an sich selbst in einen vagen Traum von Geltung, Ruhm und Reichtum vorstoßen wollen, als sei der Wunsch schon eine Leistung.

Solche Vorstellungen können im Rahmen der Erwachsenenbildung nur enttäuscht werden, zumal es – meiner Überzeugung nach – beim Schreiben wie bei allen Künsten auf Fleiß, Selbstkritik, Handwerk und natürlich auch auf Neigung und Talent ankommt. Und aufs Bewusstsein, dass man anderen Menschen Lesenszeit raubt. So ist es für manche Teilnehmende unbefriedigend, dass ich für ihren kleinen Kursbeitrag weder eherne Regularien für ein individuelles, stets extrem diverses Schaffen liefere noch eine „Gelinggarantie“ biete – wie bei der weltberühmten Wuppertaler Kochmaschine für Nichtkochende.

Aus der Sicht des Kursteilnehmers stimmt es: Sobald ich mich als Autor bezeichne, bin ich ein Hochstapler. Die bisherigen Bücher in großen Verlagen sind vergriffen und vergessen; nur eines ist in Übersee noch lieferbar. Sie haben kaum die Tinte eingebracht, die ich beim Schreiben trank. Erfüllung des Selbstbildes auf Kosten anderer Menschen oder der papiergebenden Natur suchte ich nie; die Miete kommt durch Dienste aller Art herein. Dabei schreibe ich täglich Verwendungstexte: Artikel, Projektinformationen, Buchbeiträge, all das, was sein muss und funktionieren soll. Daneben lektoriere und korrigiere ich Texte anderer, sofern sie ihre Absicht sonst nicht erreichen. Abertausende Menschen in vielen Berufen arbeiten auf diese Weise als Klempner und Monteurinnen der gesellschaftlichen Kommunikation am Wort, ohne jeden Gedanken an Kunst und Ruhm.

Diese Selbstverständlichkeit steht auf der Kippe wie ein Antarktisgletscher: nicht nur durch die unberechenbaren Irrfahrten der Künstlichen Intelligenzen aller Konzerne oder die Behauptungsschlachten auf den omnipräsenten Gefälligkeitskanälen, sondern auch durch sich weiterhin wandelnde Bewertungskriterien: Süffige Zeitvertreibe, Lebenshilfen und Rechthabereien aller Art und gern auch das Selbstbild nicht in Frage stellende Historie gilt im Markt als ideal; offene Fragen, Betrachtungen des Klimawandels und gesellschaftlicher Erosion oder gar Dichtung und Poesie nehmen nur die Abgebrühten, die Abenteurerinnen in die Ferien mit.

Gereist wird heuer so viel wie nie zuvor, vielleicht unter dem Eindruck, dass dies zwangsläufig bald ein Ende hat. Der Umsatz des lesenden Weltreisens durch Neugier, Kunst und Wissensdurst macht nur einen verschwindend kleinen Bruchteil davon aus.

„Literatur auf der Insel“ in der Insel über dem Café Ada feiert am 7. Juni mit dem Autor Navid Kermani das zehnjährige Jubiläum. Er ist garantiert kein Hochstapler! Und auch das „Karussell“ als Wuppertaler Literaturmagazin dreht sich wieder. Es geht nicht um das Wohlfühlen, nicht um „schöne Momente“ und problemfreien Genuss. Sondern schlicht um den Grund des Lesens – und den des Schreibens. In der Frage, was sie eigentlich will, fängt die tatsächliche Kunst bei jedem Satz am Nullpunkt an.

Was kann aufregender sein?