Frau Wagner-Bergelt, wie war der Saisonstart am 3. Oktober?
Wuppertaler Kultur Mutig und lebendig mit Pinas Werken umgehen
Interview Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ist in die neue Saison gestartet. Intendantin Bettina Wagner-Bergelt spricht über die aktuellen Themen.
Der Saisonauftakt des Tanztheaters Wuppertal verlief verheißungsvoll und war sehr emotional, weil des zehnten Todestages Pina Bauschs gedacht wurde – mit einer Doppelaufführung aus einem Repertoire-Stück und einer einmaligen Hommage. Viel Zeit zur Verarbeitung hatte die Intendantin und künstlerische Leiterin Bettina Wagner-Bergelt seither nicht. Weitere Stücke werden einstudiert: Am 16. November wird das nächste Stück „Wiesenland“ aufgeführt, Gastspiele stehen an, Strukturarbeit wird geleistet. Alles in einem knappen Zeitrahmen von noch eineinhalb Jahren, den ihr Vertrag ihr lässt. Im Gespräch mit der WZ erzählt die ehemalige Chefdramaturgin und Kuratorin, wie sie ihre Arbeit erlebt, was ihr Spaß macht und welche Fragen sie sich stellt.
Bettina Wagner-Bergelt: Wir wollten einen Abend, der des zehnten Todesjahres auf angemessene Weise gedenkt. Die Reaktionen zeigen, dass uns das sehr gut gelungen ist. Mit dem sogenannten Chile-Stück, das immer ein bisschen als Bild von Pina Bauschs damaliger Situation, ihrer zunehmenden Erschöpfung (im Juni 2009, kurz vor ihrem Tod, Red.), als Abschiedsstück gesehen wird. Sie zeigt darin auf sehr schöne Weise ihre sehr innige Beziehung zu ihren Tänzern und denkt zugleich die politische Situation in Chile mit, wo das Stück entstand. Außerdem wollten wir diesen Tag mit allen begehen, nicht nur mit denen, die Pina gekannt haben. Eine Hommage in einer Cafészenerie zu gestalten, lag sehr nahe. Pina liebte es, unter Menschen zu sein, im Café zu sitzen, zu reden, zu lesen und zu arbeiten. Wir haben also viel O-Ton-Pina vorgelesen, mit Tanzszenen konterkariert, mit Erzählungen – und am Schluss das Publikum auf die Bühne geladen. Das hat funktioniert. Die Stimmung war entspannt und dem Anlass angemessen. Ich glaube, Pina hätte sich wohlgefühlt.
Wie ist die Situation unter den Tänzern mittlerweile?
Wagner-Bergelt: Schwierig und immer noch unsicher, nicht nur unter den Tänzern. Ich versuche dem entgegenzutreten, indem ich den Blick einerseits auf die Arbeit konzentriere und wir andererseits die schwierige Situation mit einem Coach begleiten, der regelmäßig im Haus ist. Dabei geht es vor allem darum, Probleme zu benennen, Tabus abzubauen, zu reden.
Beispiele?
Wagner-Bergelt: Mit dem Encounters-Projekt versuche ich, das Ensemble wieder in eine offene Arbeitssituation zu bringen, mit der Möglichkeit ohne Angst und Druck zu experimentieren, den Pioniergeist von einst wieder zu wecken. Es geht um den Prozess: Die Tänzer entwickeln gemeinsam mit externen Künstlern ein Stück. Ich hoffe, dass das Spaß macht und Enthusiasmus weckt. Dahinter steht immer wieder die Frage, wie wir mit Pinas Erbe umgehen. Wenn wir es ernst nehmen, müssen wir uns auf Neues, neue Formen, Arbeitsweisen einlassen, neue Fragen stellen, uns herausfordern lassen. Dazu gehören Choreographen, die solche Arbeitsweisen nicht nur zulassen, sondern genau diese Auseinandersetzungen suchen. Den Umgang miteinander reflektieren, die Situation im Studio als Utopie begreifen und das, was die Tänzer mitbringen, nutzen.
Wie wollen Sie Pina Bauschs Repertoire in die Zukunft führen?
Wagner-Bergelt: Ich habe keine fertigen Antworten. Jede Einstudierung bringt neue Erkenntnisse. Es geht nicht ums Nachbuchstabieren, sondern um einen kreativen Impuls, eine Relevanz für heute, die gefunden werden muss, so dass die Werke wieder zu einer Sensation auf der Bühne werden. Aufregend, komplex, herausfordernd. Wir müssen überlegen, ausprobieren, scheitern, neu anfangen, im Austausch mit den Probenleitern, auch mit Salomon Bausch und der Stiftung. Dabei besteht natürlich immer auch der Druck durch den Spielplan.
Wie viel Freiheit besteht bei der Aufführung der Stücke?
Wagner-Bergelt: Im Moment haben wir etwa noch knapp die Hälfte an ursprünglichen Tänzern, es kommen immer mehr neue, junge dazu. Irgendwann ist niemand mehr da, der Pina kannte. Also müssen wir jetzt die Weichen stellen, dass auch Leute, die die Stücke nicht kreiert haben, sie tanzen und auch einstudieren können. Pinas Stücke sind autonome Kunstwerke, daran glaube ich, die nicht an die Menschen gebunden sind, die sie geschaffen haben. Sollte eine Re-Kreation etwa besser durch jemand von außen geschehen, der vielleicht objektiver ist? Das ist für manche ein positiver, entlastender, für manche ein schmerzhafter Gedanke.
Was bedeutet das für die Stücke-Auswahl?
Wagner-Bergelt: Wir müssen überlegen, welche Werke wir aufführen und warum, welche wir beiseite legen. Die Rezeptionsgeschichte ändert sich ja. „Blaubart“ (Uraufführung 1977; Wiederaufnahme im Januar 2020, Red.) beispielsweise, der als ursprüngliche Märchenfigur zu einer Art Archetyp der Moderne, einem Symbol einer Form pervertierter Liebe geworden ist, wird in Zeiten von #metoo und einer größeren Sensibilität für Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau vielleicht heute ganz anders gesehen. Gerade Pina Bauschs frühe Stücke aus den 70er Jahren, die komplex, vielschichtig und wenig versöhnlich auch in den Beziehungsvarianten waren, interessieren mich sehr.
Sie haben noch anderthalb Jahre Zeit.
Wagner-Bergelt: Wenn ich mehr Vorlaufzeit gehabt hätte, hätte ich mir viel mehr angeguckt. So muss ich gleichzeitig sehen, analysieren und agieren. Ich will die verbleibende Zeit nutzen, um wieder eine größere Leichtigkeit in die Compagnie zu bringen, ohne Tabus und unantastbare Heiligtümer. Mit größerer Lust, mit Pinas Stücken kontrovers umzugehen, ohne Angst etwas kaputt zu machen. Pina hat die Werke losgelassen. Ihre Stücke atmen eine große Freiheit, eine Vision vom Leben, von Liebe, von Nähe, kennen keine Kleinkrämerei. Sie gehören nicht ins Museum, wir müssen lebendig und mutig mit ihnen umgehen.
Sie müssen sich auch um das Beschäftigungsverhältnis mit Ihrer Vorgängerin Adolphe Binder kümmern.
Wagner-Bergelt: Ja, Roger Christmann und ich sind als Geschäftsführer dafür verantwortlich, mit ihr Gespräche zu führen. Das gehört zu meinen Aufgaben. Ich finde aber die öffentliche Fokussierung auf Frau Binder übertrieben, mir ist die Fokussierung aufs Theater wichtiger.
Macht Ihnen die Arbeit (noch) Spaß?
Wagner-Bergelt: Ja, immer, wenn ich kreativ und lustvoll mit Kunst und Künstlern umgehen, künstlerische Prozesse begleiten, Menschen zusammenbringen kann, dann macht es Spaß, darin habe ich viel Erfahrung. Ich konzentriere mich gerne auf Menschen, gehe gern mit ihnen um und fordere ihre Möglichkeiten heraus.
Wie weit ist die Strukturarbeit, die Ihnen und Roger Christmann auch aufgetragen wurde?
Wagner-Bergelt: Da sind wir kontinuierlich dran, seit wir hier begonnen haben. Roger Christmann ist gut darin, methodisch und zielorientiert Strukturen aufzubauen, Tools einzuführen, die die Arbeit erleichtern. Bei Pina Bausch hatte das Tanztheater noch eine Art Familienstruktur mit ihr als unangefochtenem emotionalem und leitenden Mittelpunkt. Nach ihrem Tod flog das alles erst einmal auseinander, es folgten viele Versuche, das aufzufangen. Wir arbeiten jetzt gemeinsam mit allen an einer Kommunikationsstruktur, die Freude macht. Das Ziel ist eine lebenswerte, fruchtbare Arbeitssituation für das Ensemble und das Team.